Warum spielen so viele aktuelle Romane dort, wo das Leben zu Ende geht? Was sagt das über unsere Zeit? Eine literarische Erkundung an der Schwelle zwischen Diesseits und Jenseits.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Wir werden immer älter, wir rauchen nicht und trinken wenig, um die letzte Schwelle des Daseins immer weiter hinauszuschieben. Der optimierte Mensch träumt von ewiger Jugend, doch des Schlafes Bruder lässt sich nicht so leicht abweisen. Die Literatur hat den Friedhof entdeckt. Eine ganze Reihe von Büchern tummelt sich dort, wo das Leben endet. Es sind nicht die schlechtesten. Der amerikanische Autor George Saunders hat für seinen Ausflug in das Totenreich, „Lincoln im Bardo“, den Pulitzerpreis bekommen und schlägt auch in Deutschland sein Publikum so in Bann, wie es zu anderen Zeiten allenfalls spiritistische Sitzungen vermochten. Sein Roman ist gleichsam das Medium der Stunde. Esther Kinskys italienische Hadesreise „Hain“ wurde mit dem Leipziger Buchpreis geehrt, und Robert Seethalers „Feld“ führt seit Wochen die Bestsellerlisten an, ein Buch, das den Verstorbenen das Wort erteilt.

 

Als wäre es damit nicht genug, hat der Stuttgarter Kröner-Verlag deutschen Lesern ein Werk zugänglich gemacht, das die Urheberschaft an all den Totengesprächen beanspruchen könnte, wäre es nicht erst vor Kurzem auf den Schädelstätten des Geistes dem Vergessen entrissen worden: „Grabgeflüster“ des irischen Autors Máirtín Ó Cadhain bereitet den Leser in einem eindrucksvollen Stimmgeflecht darauf vor, dass es unter der Erde kaum anders zugeht als ein Stockwerk höher. Der Roman des neben Joyce zu den wichtigsten irischen Autoren zählenden Cadhain entstand bereits 1949, doch jedes Buch sucht sich seine Stunde, um wirksam zu werden.

Was sagt diese Fülle moribunder Literatur, von den Konjunkturen gruftiger Subkulturen einmal ganz abgesehen, über die Gegenwart aus? Was macht den Friedhof als Erzählraum so attraktiv? Findet in der Echokammer des Grabes eine sozialpsychologische Stimmungslage ihren Ausdruck, unterschwellige Sympathie mit dem Ende? Sind die verblüffenden Darstellungsformen gar das zeitgemäße Erscheinungsbild einer neuen Dekadenzliteratur? Nun könnte man sehr schnell ganz allgemein werden und darauf verweisen, dass es in der Literatur schon immer um Angelegenheiten zwischen Leben und Tod ging, seit Orpheus in die Unterwelt gereist ist, um sich von dort seine tote Geliebte zurückzuholen. Und in Umrissen findet sich das mythische Setting noch in George Saunders Friedhofsroman. „Lincoln im Bardo“ steht mit einem Bein auf dem historisch verbürgten Boden der Tatsachen, mit dem anderen im Geisterreich. Erzählt wird, wie der amerikanische Präsident Abraham Lincoln, während der Amerikanische Bürgerkrieg tobt, aus Trauer um seinen von einer Krankheit dahingerafften Sohn dessen Grabesgruft aufsucht, um den geliebten Toten für eine letzte Umarmung noch einmal aus seinem Sarg zu holen.

Vielstimmigkeit aus dem Jenseits

Der Schmerz des Zurückgebliebenen ist die eine Seite. Doch Dichter haben die Gabe, die Seite zu wechseln. Deshalb vernimmt man hier auch die Stimmen derer, die sich zwischen Diesseits und Jenseits an einem Zwischenort aufhalten, luftige Wesen, die sich über ihre endgültige Bestimmung nicht im Klaren sind, sich für krank, nicht für tot halten, noch halb an der Welt und ihren Lüsten hängen und doch erleben, nicht mehr teilzuhaben. Sie nehmen den jungen Lincoln unter ihre schwarzen Fittiche und erzählen jenen Part, den die historischen Quellen verschweigen.

Vielstimmigkeit ist die Antwort der Literatur auf schwindende Gewissheiten, so wie hier hat man sie noch nicht vernommen. Von Benjamin Franklin, einem der Gründerväter der Vereinigten Staaten, stammt der Satz: „Nur zwei Dinge auf dieser Welt sind uns sicher: der Tod und die Steuer.“ Dass sich inzwischen die Unsicherheit vom anderen Ende der Geschichte aus betrachtet in jene andere Welt ausgebreitet hat, untermalt zudem vom blutigen Gemetzel des Amerikanischen Bürgerkriegs, gemahnt, dass in Zeiten, in denen die Gesellschaft unversöhnlich auseinanderdriftet, vom Jenseits keine Hilfe zu erwarten ist. Sicher, bei aller Gefährdung, erscheint nur das Leben. Was dann kommt, bleibt mehr als ungewiss.

Auch Esther Kinskys Roman „Hain“ ist von einem Seitenwechsel bestimmt. In rumänischen Kirchen zünden die Menschen an zwei voneinander getrennten Stellen Kerzen an. Hier die Lichter der Lebenden, dort die der Toten. „Die einen Kerzen leuchten der Zukunft, die anderen der Vergangenheit.“ Jemand, der ihr nahe stand, ist von der einen auf die andere Seite gewechselt. Die Trauernde bricht zu einer Erinnerungsreise auf, einer Hadesfahrt durch das heutige Italien, seine Friedhöfe, Nekropolen, ruinösen und zivilisatorischen Hinterlassenschaften.

„Hain“ führt durch eine Sphäre zwischen Leben und Vergänglichkeit, Natur und Verfall, Hässlichkeit und einer darin wuchernden eigentümlichen Form der Schönheit. Dass sich im Land der Sehnsucht das Unheil der Welt behauptet, bringt ein altes ernstes Motiv gegen die sentimentale Verklärung in Stellung: Et in Arcadia ego – auch ich, der Tod, bin in Arkadien zu Hause. Und wer könnte heute noch den Blick über die Gestade des Mittelmeers schweifen lassen, ohne daran zu denken.

Gedenke der Lebenden

Viele, die bei ihren Versuchen, von einer Seite auf die andere überzusetzen, auf der Strecke bleiben, kommen von dort, wo Khaled Khalifas Roman „Der Tod ist ein mühseliges Geschäft“ spielt. Eine Friedhofsreise auch dies. Drei Geschwister schlagen sich durch das, was von Syrien übrig blieb, um ihren verstorbenen Vater, der sich stündlich in einen immer schrecklicheren Aggregatzustand verwandelt, zur letzten Ruhe zu betten. Die Auflösung alles Menschlichen, am Leib des Vaters in allen Stadien vorgeführt, ist zugleich eine Parabel auf die syrische Tragödie, die grauenhafte Realität eines Landes, in dem der Tod keine Emotionen mehr wachruft, außer den Neid der Lebenden.

Es gibt zu denken, dass die zeitgenössische Welt in einer auf das Grab zentrierten Sprache zu sich selbst findet. Alle die genannten Bücher kommen darin überein, das Leben von seinem Ende aus zu betrachten. Aber lässt sich daraus Endzeitsymptomatik ableiten? Vielleicht gerade nicht. Die Auferstehungsfeiern der Schönheitsfarmen oder Anti-Aging-Kliniken wären in dieser Hinsicht wohl ergiebiger. Jenseits von Schauerromantik und makabrer Fantasie wird der literarische Friedhofsgang von der ästhetischen Maxime geleitet, dass erst vom Punkt der äußersten Gefährdung aus die Dinge des Lebens in ihrer zerbrechlichen Eigenart offenbar werden. Das Gefühl aber, einem solchen Punkt nahe zu stehen, von unterschiedlichster Seite aus genährt, mag man dann tatsächlich als Signatur der Zeit dem literarischen Chor der Toten ablauschen. Nicht als Memento mori, sondern als Erinnerung an die Lebenden.

Máirtín Ó Cadhain: Grabgeflüster.
Aus dem Irischen von Gabriele Haefs. Kröner-Verlag. 461 Seiten, 24,90 Euro.

Khaled Khalifa: Der Tod ist ein mühseliges Geschäft.
Roman. Übersetzt von Hartmut Fähndrich. Rowohlt-Verlag. 224 Seiten, 20 Euro.

George Saunders: Lincoln im Bardo.
Roman. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Luchterhand-Literaturverlag. 428 Seiten, 25 Euro.

Esther Kinsky: Hain.
Geländeroman. Suhrkamp- Verlag, Berlin. 287 Seiten, 24 Euro.

Robert Seethaler. Das Feld.
Roman. Hanser, Berlin. 240 Seiten, 22 Euro.