Die Todesstrafe in den Vereinigten Staaten ist höchst umstritten, in Maryland ist sie gerade abgeschafft worden. Unser USA-Korrespondent Damir Fras hat mit einem gesprochen, der jahrelang in staatlichem Auftrag getötet hat.

Richmond - Am 12. Oktober 1984, abends um 23 Uhr, drückte Jerry Givens auf einen Knopf. Givens beobachtete durch ein Fenster, wie sich Linwood Briley aufbäumte, als der Strom durch seinen Körper floss. Dann war es vorbei. Insgesamt 62 Menschen sollte der Henker von Virginia noch mit der Giftspritze und auf dem elektrischen Stuhl töten, bis er schließlich zur Einsicht gelangte, dass die Todesstrafe abgeschafft werden müsse.

 

Jerry Givens ist 60 Jahre alt, ein wuchtiger Afroamerikaner mit Brille und weißlichem Bart. Er sitzt in einem Restaurant in Richmond und erzählt von seinem ersten Leben, das 1999 zu Ende ging. „Hey“, sagt Givens, der mittlerweile sein Geld als Lastwagenfahrer verdient und zur Entspannung im Kirchenchor singt, „ich dachte mir damals: Jeder weiß, dass es die Todesstrafe für Mord gibt. Also warum begehen diese Leute die Verbrechen, wenn sie die Wahl haben? Das ist so etwas wie Selbstmord.“

Das sagt sich Givens, als er Linwood Briley hinrichtet, der Ende der 70er Jahre eine Art Serienkiller in Richmond war. Er sagt sich das, als er ein Jahr später Brileys Bruder James tötet, der ebenfalls mehrerer Morde für schuldig befunden wurde. 1993 sind es Syvasky Poyner, der fünf Frauen getötet hatte, und David Pruett, ein Mörder und Vergewaltiger, sein Opfer war die Frau seines besten Freundes.

Der Tod eines Mädchens hat Givens geprägt

Es war ein traumatisches Erlebnis, das Givens zu seinem Beruf geführt hat. Er war 14 Jahre alt und auf eine Party in Richmond eingeladen. Er habe dort ein Mädchen gesehen, das ihm gefallen habe, sagt Givens: „Doch ich war schüchtern.“ Er überlegte damals, ob und wie er das Mädchen zum Tanzen auffordern sollte, als ein bewaffneter Mann in das Haus stürmte und um sich schoss. Das Mädchen starb. „Ich wollte ihr zur Hilfe kommen. Ich hatte ihr Blut an den Händen“, erinnert sich Givens.

Jahre später, als er schon zum Henker ernannt ist, wird er sich an dieses Erlebnis immer wieder erinnern. Er wird es als Begründung für sich selbst nehmen, weshalb er das Richtige tut, wenn er die Todeskandidaten in den elektrischen Stuhl schnallt oder ihnen die Spritze gibt.

Die schlüssige Formel lautet Vergeltung

Auge um Auge, Zahn um Zahn – das war für Givens eine schlüssige Formel. „Ich habe es getan, weil einer es tun musste, weil es das Gesetz gab. Weil es das Gesetz so wollte“, sagt Givens mit erstaunlich leiser Stimme. Er zweifelte nicht. „Ich dachte, ich erweise Gott einen Gefallen, wenn ich das Leben derer nehme, die Unschuldige getötet haben“, sagt der tiefgläubige Baptist.

Er machte das Erlebte vollständig mit sich selbst aus, er erzählte es nicht einmal seiner Frau. Sie wusste, er arbeitet im Todestrakt, mehr verriet er nicht. „War das eine Lüge?“, sagt Givens. Er spricht leiser, gibt seiner Stimme einen verschwörerischen Ton: „Nein, das war es nicht. Aber ehrlich war es auch nicht, dass ich immer alles für mich behalten habe.“ Givens führte ein Doppelleben.

Die Angst, einen Unschuldigen zu töten, belastet den Henker

Ausgerechnet der Todeskandidat, den er nicht hinrichten musste, brachte Givens auf einen anderen Weg. Earl Washington Jr. war 1984 zum Tode verurteilt worden, weil er gestand, eine 19 Jahre alte Mutter von drei Kindern in der Stadt Culpeper in Virginia vergewaltigt und getötet zu haben. Doch Washington hatte nur einen Intelligenzquotienten von 69 und seine Schilderung der Tat passte so gar nicht zu den Ermittlungen der Polizei. Nach einem DNA-Test stellte sich 1993 schließlich heraus, dass Washington nicht der Täter war. Er wurde freigelassen.

Givens begann zu zweifeln. „Ich habe mich gefragt, ob ich womöglich schon einmal einen Unschuldigen hingerichtet habe“, sagt der Mann, der seit einigen Jahren versucht, die Politik in Virginia zur Abschaffung zur Todesstrafe zu drängen: „Ich wusste keine Antwort auf diese Frage.“ Die Antwort habe er erst einige Jahre später bekommen, sagt Givens. 1999 musste der Henker von Virginia selbst ins Gefängnis. Er wurde zu einer vierjährigen Haftstrafe verurteilt, weil er ein Auto mit Drogengeld bezahlt haben soll. Heute noch sagt Givens, er sei unschuldig gewesen, er habe niemals mit Drogen gehandelt.

Lebenslänglich ohne Chance auf Begnadigung sei schlimmer

Im Gefängnis habe er viel über die Todesstrafe nachgedacht, sagt Givens: „Gott hat mich aufgeweckt. Jesus war unschuldig und ist hingerichtet worden. Das sollte ein Beispiel für uns alle sein.“ Givens‘ leise Stimme ist heiser geworden. Er nimmt einen Schluck aus dem Wasserglas und sagt, die Zweifler an der Todesstrafe würden sich langfristig durchsetzen. Die Sache sei ganz einfach, sagt er: „Lebenslänglich ohne Chance auf Begnadigung, das ist die wahre Todesstrafe. Heute bringen wir die Leute einfach um.“ Wenn nur die Richter und die Geschworenen auch die Henker wären, sagt Givens: „Dann würden weniger Todesurteile gefällt werden. Denn dann müssten sich Richter auch fragen, ob sie ihren eigenen Sohn zum Tode verurteilen würden.“ Givens muss los. Er hat eine Verabredung mit einem Filmemacher, der eine Dokumentation über den Henker, der zum Gegner der Todesstrafe wurde, drehen will.

In den vergangenen Jahren hat sich in den USA die gesellschaftliche Haltung gegenüber der Strafform nicht grundsätzlich gewandelt. In den 32 Bundesstaaten, in denen es derzeit noch die Todesstrafe gibt, spricht sich in Meinungsumfragen regelmäßig noch eine Mehrheit für deren Erhalt aus. Aber die Mehrheit ist geringer geworden. Als die Wahlberechtigten von Kalifornien vergangenen November über die Abschaffung der Todesstrafe abstimmen sollten, fiel das Ergebnis mit 53 Prozent Neinstimmen zu 47 Prozent Jastimmen knapper aus als noch vor Jahren. Die Amerikaner sind nachdenklicher geworden. Das belegen Angaben des Death Penalty Information Center, das für eine Abschaffung der Todesstrafe eintritt. Auch die Zahl der Exekutionen hat wieder erheblich abgenommen. 1999 wurden 98 Urteile vollstreckt, im Jahr 2012 waren es dagegen nur 43.

Die Kritiker halten die Hinrichtungen für teuer und ungerecht

Die Argumente gegen die Todesstrafe sind seit Jahren dieselben. Sie ist ungerecht und voreingenommen. Nach offiziellen Angaben sind nur 13 Prozent der Amerikaner Schwarze. Aber unter den zum Tode Verurteilten in den US-Gefängnissen machen Afroamerikaner 42 Prozent aus. In manchen Bundesstaaten sind es sogar bis zu 80 Prozent. Die Todesstrafe ist teuer, weil Todeskandidaten über Jahre hinweg in zahllosen Berufungsverfahren versuchen, der Hinrichtung zu entgehen, und dafür zahllose Rechtsanwälte beschäftigen. Nach einer aktuellen Studie könnte etwa der Bundesstaat Kalifornien, der ohnehin unter Geldmangel leidet, pro Jahr mindestens 170 Millionen US-Dollar sparen, wenn die Todesstrafe abgeschafft würde.

Die Abschreckung funktioniert nicht

Vor allem aber tauge die Todesstrafe nicht dazu, Morde zu verhindern. „Die Todesstrafe hat nicht einen einzigen Menschen auf diesem Planeten davor bewahrt, Opfer eines Mordes zu werden“, sagt Kirk Bloodsworth: „Wir müssen endlich damit aufhören, uns zu töten.“ Bloodsworth ist gewissermaßen der lebende Beweis für den Unsinn der Todesstrafe. Er ist der erste Todeskandidat, der in den USA nach einem DNA-Test aus dem Gefängnis in die Freiheit entlassen wurde.

Es geschah im Jahr 1993. „Ich saß seit genau acht Jahren, zehn Monaten und 19 Tagen im Knast, zwei Jahre davon im Todestrakt von Baltimore“, sagt Bloodsworth, der in Annapolis, der Hauptstadt des Bundesstaates Maryland, lebt. Er war zum Tode verurteilt worden, weil er 1984 ein neun Jahre altes Mädchen vergewaltigt und getötet haben soll. Bloodsworth beteuerte seine Unschuld und kämpfte jahrelang um einen DNA-Test. Dieser war zunächst nicht möglich, weil die Vergleichsproben – Sperma auf der Unterwäsche des Opfers – verschwunden waren. Erst als das Beweisstück sich in einer Papiertüte wieder fand, die über Jahre hinweg in einem Büro im Gerichtsgebäude gelegen hatte, gelang der Test. Bloodsworth wurde freigelassen und bekam eine Entschädigung von 300 000  US-Dollar. Später bekannte sich ein Mann schuldig, das Mädchen getötet zu haben, der einige Jahre lang ebenfalls in dem Gefängnis inhaftiert war, in dem Bloodsworth saß. „Ich habe mit dem Typen sogar Gewichte gehoben“, sagt Bloodsworth.

Vor der Verhaftung war er Diskuschampion und bei den Marines

Er ist mit seinen 52 Jahren immer noch ein Bulle von Mann. Das T-Shirt spannt über seinem mächtigen Brustkorb. Vor der Verhaftung war er vier Jahre lang bei den Marines, und er war Diskuschampion. „Das ist er, das war mein Held“, sagt Bloodsworth und zeigt ein Bild auf seinem Handy. Ein Foto von Wolfgang Schmidt, einst deutscher Diskuswerfer und Dritter bei der Europameisterschaft 1990.

„Mensch, ich könnte immer noch Krabbenfischer und Diskustrainer sein“, sagt Kirk Bloodsworth und holt tief Luft. Auch er wurde zu einem Kämpfer gegen die Todesstrafe, ist Mitglied der Lobbygruppe Witness to Innocence aus Philadelphia, die sich um die aus dem Todestrakt Freigekommenen kümmert. Mehr als 140 sind es bereits. „Ich glaube, dass keine Einzelperson so viel bewirkt hat wie Kirk“, sagt Jane Henderson von der Antitodesstrafengruppe Maryland Citizens Against State Executions: „Er kann sich ausdrücken, er ist geduldig, und er hat ein großes Herz.“

In Maryland hatte der Protest Erfolg, die Abgeordneten des liberalen Ostküstenstaates haben gerade die Todesstrafe abgeschafft. Ernsthafte Debatten darüber werden auch in Colorado, Oregon, Kansas und Delaware geführt. „Die Menschen sollen sich später einmal an mich erinnern“, wünscht sich Bloodsworth, „ich bin aufgestanden und habe mich gewehrt.“