Vor einem Jahr hat sich Robert Enke selbst getötet. Viel wollte der Sport ändern seitdem. Tatsächlich ist wieder der Alltag eingekehrt.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)
Stuttgart - Es lässt sich nicht genau sagen, wann die Normalität endgültig zurückgekehrt ist. Vielleicht am 16. Januar 2010. Der Tag, an dem der Ball wieder rollt und das Milliardengeschäft Fußball-Bundesliga wieder Fahrt aufnimmt.

Die Winterpause ist vorbei, beendet die Wochen der Trauer, die keine Ablenkung von dem schrecklichen Vorfall boten. Zwei Monate ist es her, dass Hannovers Torhüter Robert Enke sich vor einen Zug geworfen hat und den Verein, den Sport, ja die Republik in eine Art Schockstarre versetzte. Hannover 96 empfängt an diesem Tag Hertha BSC, es ist ein Spiel um das sportliche Überleben, Klassenkampf auf dem Platz. Das Duell zweier Mannschaften, die tabellarisch abgestürzt sind.

Im Zentrum der Tragödie in Niedersachsen suchen sie nach der richtigen Balance zwischen der Trauer und dem Weiterleben. Es muss weitergehen, aber es geht nicht richtig weiter. Hannovers Sportdirektor Jörg Schmadtke kämpft deshalb an gegen die Lähmung, die Stadt und Verein ergriffen hat. Ein bisschen Normalität soll zurückkehren. Er lässt das riesige schwarze Trikot von Robert Enke unterm Stadiondach abhängen. Es soll ein Zeichen sein - nicht, dass man vergessen soll, aber dass es doch auch ein Leben nach dem Tod des beliebten Torhüters gibt.

Ein ganzes System stellte sich infrage


Hannover 96 hat seit der Selbsttötung von Robert Enke nicht mehr gewonnen. Nun, an diesem 16. Januar, kommt also Berlin. Hannover benötigt drei Punkte, so unbedeutend das erscheinen mag angesichts des Schicksals hier. Hannover verliert 0:3. Die "Bild"-Zeitung titelt: "Die roten Voll-Versager".

Als wäre nichts gewesen.

Der Fußball ist ein Perpetuum mobile. Er dreht sich immer, egal, was passiert, auch wenn nichts passiert. Es gibt keinen Stillstand. Die Bundesliga produziert unablässig Schlagzeilen, und nichts konnte ihr etwas anhaben, ob Bundesliga- oder Wettskandal. Doch nun war es anders. Robert Enke schien die Maschinerie zu stoppen. Dieses dauerhaft überhitzte Business stellte sich Fragen.

Die Branche Hochleistungssport sah sich damit konfrontiert, wie sie mit jenen Menschen umgeht, die Teil des Geschäfts sind. Der Fußball war nicht ursächlich für Enkes Tod, im Gegenteil: das Spiel gab ihm sogar Halt. Doch die Debatte ergriff auch den Sport, der aus der Tragödie lernen wollte, ebenso hinterfragte man das Tun und Wirken der Massenmedien und den Umgang mit den Athleten. Ein ganzes System stellte sich infrage. Ein Jahr ist das her. Und was ist passiert?

Zu Grabe getragen wie ein König


Steven Cherundolo ist der Kapitän von Hannover 96. Nun hat man ihn gefragt, was sich denn im Fußball seither verändert habe. "Nichts", hat er geantwortet. "Die Bundesliga wartet nicht. Sie ist ein schnelllebiges Geschäft und ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Man muss sich durchbeißen. Auf einen Verein, der eine schwere Zeit durchmacht und eine Krise durchlebt, nimmt niemand Rücksicht."

Robert Enke wurde zu Grabe getragen wie ein König, nie zuvor wurde Trauer derart zelebriert, die Anteilnahme am Tod des beliebten Torhüters überstieg alles je Dagewesene. Es gab kein Maß, und später kritisierten Organisationen, die gegen Depressionen kämpfen, dass man seine Selbsttötung ja geradezu religiös überhöht habe.

Man hat es nur gut gemeint. Wie so viele in diesen Tagen. Theo Zwanziger, Präsident des Deutschen Fußball-Bundes, sagte in einer bemerkenswerten Rede auf der Trauerfeier am 15. November: "Denkt nicht nur an den Schein, Fußball darf nicht alles sein! Man darf nicht nur wie besessen Höchstleistungen hinterherjagen. (...) Maß, Balance, Werte wie Fair Play und Respekt sind gefragt. (...) Ein Stück mehr Menschlichkeit, ein Stück mehr Zivilcourage, ein Stück mehr Bekenntnis zur Würde des Menschen, des Nächsten, des anderen. Das wird Robert Enke gerecht."

"Es interessiert sich keiner für den Menschen"


Ein Stück mehr Menschlichkeit, ein Umfeld, das nicht vergisst, dass bei aller guten oder schlechten Leistung der Athlet ein Mensch ist - dies sollte die Botschaft der Tragödie sein. Es war die naive Hoffnung. Am 18. November bestreitet die Nationalmannschaft ein Spiel gegen die Elfenbeinküste. Als Mario Gomez einige unglückliche Szenen hat, wird er fortan ausgepfiffen.

Helmut Digel ist einer der angesehensten Sportsoziologen des Landes. Der emeritierte Professor ist ein Kritiker der Zustände im Hochleistungssport und konstatiert: "Die Systemlogik ist nicht dafür geschaffen. Es interessiert sich keiner für den Menschen. Es geht immer um eine Steigerung, für Schwächen ist kein Platz. Wie im Hamsterrad geht es immer weiter. Wer keine Leistung bringt, ist raus. Fällt ein Athlet aus, kommt der nächste." Die Debatte über mehr Menschlichkeit sei daher heuchlerisch: "Der Sport ist eine Rhetorikbühne für Wertedebatten."

Tag für Tag spuckt der Sport Gewinner und Verlierer aus, das ist das Prinzip. Milliarden werden umgesetzt, im Gegenzug gilt es, Emotionen zu transportieren, von Triumphen und Enttäuschungen. Schwarz und Weiß sind die Koordinaten der Bewertung, nicht die Grauzonen. Das gilt vor allem für den Boulevard, aber nicht nur. Zu selten wird differenziert: Man kann gut gespielt und verloren haben, man kann schnell gewesen sein, aber ein anderer war besser. Nicht jeder Verlierer ist ein Versager.

Der Hochleistungssport ist in sich gefangen


Die Praxis sieht anders aus. Digel spricht vom "Teufelskreislauf der Kommerzialisierung". "Es gibt eine Orientierung an Fakten, einen Totalitarismus des Erfolgs." Der Hochleistungssport sei da eben in sich gefangen.

Was tatsächlich besser geworden ist, und das ist vielleicht das Gute im Schlechten, ist der Umgang mit dem Thema Depression. Enkes Tod rückte das Tabuthema in den Fokus. Es wurde aufgeklärt, es wurde thematisiert statt stigmatisiert. Dass ein Leistungssportler an dieser Krankheit litt, zeigte, wie wenig man vor ihr gefeit ist und wie wichtig Aufklärung und Beratung angesichts der gesellschaftlichen Dimension der Krankheit ist. All das hat dem Kampf gegen die Angst vieler Betroffenen geholfen.

Die "Bild"-Zeitung übrigens gelobte damals, dass man künftig vielleicht etwas vorsichtiger sein werde. Die "roten Voll-Versager" aus Hannover vom Januar dieses Jahres brandmarkt das Blatt nach dem 0:3 gegen Hertha BSC kollektiv mit der Note 6.