Dass die Notsysteme in Lastwagen den Verkehr sicherer machen, ist unstrittig. Doch Experten warnen nach einem Prozess um einen tödlichen Autobahnunfall vor weiteren Crashs durch ein Modell von Daimler.

Mannheim - Schwere Auffahrunfälle mit Lastwagen am Ende eines Staus sind ein Albtraum für viele Autofahrer. Notbremsassistenzsysteme, die seit dem Jahr 2015 EU-weit in allen neu zugelassenen Lastwagen ab 7,5 Tonnen vorgeschrieben sind, sollen für mehr Sicherheit sorgen und Fahrern helfen, solche Unfälle zu vermeiden. 60 bis 70 Prozent aller Lkw sind nach Expertenangaben inzwischen mit solchen Assistenten ausgestattet, die im Notfall warnen und bremsen sollen. Eine hundertprozentige Garantie dafür, dass die Geräte, die mit Radar und teilweise auch mit Kameras arbeiten, jede Gefahr erkennen und richtig einschätzen, gibt es aber nicht.

 

Richterin gibt nicht nur dem Fahrer die Schuld

Das zeigte auch ein Prozess um einen tödlichen Auffahrunfall vor dem Amtsgericht Mannheim, der kürzlich zu Ende gegangen ist. Bei dem Unfall, der sich im Juni 2017 auf der A 6 bei Mannheim ereignet hatte, war ein Sattelzug-Fahrer an einem Stauende mit 85 Kilometern ungebremst auf ein Auto aufgefahren. Zwei Menschen kamen ums Leben, elf wurden teilweise schwer verletzt. Der Fahrer wurde wegen fahrlässiger Tötung zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Die Schuld gab die Richterin aber nicht allein dem 33-Jährigen, der wohl am Steuer kurz eingeschlafen war, sondern auch dem Assistenzsystem, einem ABA 3 (Active Break Assist) von Daimler. Es habe die Gefahr nicht erkannt und weder gewarnt noch gebremst. „Das System ist seiner Aufgabe nicht nachgekommen“, sagte die Richterin.

Es ist ein Systemfehler denkbar

Der Prozess hat in der Speditionsbranche und unter Fachleuten Aufsehen erregt. In der Fachpresse war zu lesen, dass der Bremsassistent, um den es in dem Verfahren ging, von 2012 bis 2016 mehrere 10 000-mal verbaut wurde und in vielen Lastwagen unterwegs ist. Mit ihm habe der Unglücks-Lkw aus dem Jahr 2014 die EU-Vorgaben „mehr als erfüllt“, erklärte der Sachverständige des Gerichtsverfahrens. Warum das System trotzdem nicht gebremst hat, konnte aber auch er nicht klären. Die Polizei war in dem Fall zunächst davon ausgegangen, dass der Fahrer den Bremsassistenten ausgeschaltet hatte. Die Protokolle des Fahrzeugs zeigten später jedoch, dass der den ganzen Tag nicht deaktiviert war, „auch nicht beim Zeitpunkt des Unfalls“, wie der Gutachter feststellte. Er sah zwei Möglichkeiten: „Entweder hat der Fahrer nach einer Warnung durch das System im letzten Moment die Bedienhoheit an sich genommen, aber dann doch nichts zur Gefahrenabwehr getan“, sagte er. „Oder wir haben einen Systemfehler, bei dem der Bremsassistent das Stauende nicht erkannt und deshalb nicht reagiert hat.“

Daimler sieht keinen Anlass zur Prüfung

Von dieser Möglichkeit hatte auch ein Ingenieur von Daimler im Zeugenstand gesprochen und erläutert, dass das Radarsystem an Grenzen kommt, wenn an einem Stauende zwei Autos auf gleicher Höhe nebeneinander stehen. In so einem Fall vermischten sich die Informationen. Der Assistent erkenne dann die Objekte nicht sicher genug und leite keine Notbremsung ein, weil diese ebenfalls schwere Unfälle verursachen könne. „Dies nährt den Verdacht, dass hier möglicherweise ein Programmfehler vorliegt“, meinte Dieter Schäfer, ein Vorstandsmitglied der Initiative „Hellwach mit 80 km/h“, in der Sicherheitsexperten und Vertreter der Transportbranche seit einem Jahr für mehr Sicherheit im Lkw-Verkehr werben. Offensichtlich habe das System die Relevanz des Hindernisses falsch eingeschätzt. „Da dieses Modell in großer Zahl verbaut wurde, besteht die Gefahr, dass das wieder passiert “, sagte Schäfer, der die Verkehrspolizei in Mannheim leitet. „Damit sollte man sich auch bei Daimler beschäftigen“, meinte er. Im Unternehmen sieht man dazu jedoch keinen Anlass. „Grundsätzlich sind uns keine technischen Fehlfunktionen des Systems bekannt“, sagt die Pressesprecherin von Daimler Trucks.

Studie: In 70 Prozent der Fälle ist kein Bremsassistent installiert

Dafür, dass auf dem Gebiet noch Verbesserungsbedarf besteht, spricht allerdings auch eine Untersuchung der Landesverkehrswacht Niedersachsen. Sie hat dort die Lkw-Unfälle der Jahres 2017 ausgewertet. Dabei kam sie zu dem Ergebnis, dass in knapp 70 Prozent der Fälle kein Bremsassistent an Bord war. Gut 30 Prozent der Auffahrunfälle wurden aber auch von Fahrzeugen mit solchen Systemen verursacht. „Die Unfälle werden durch die Bremsassistenten zweifellos reduziert“, sagt dazu der Vizepräsident des Verbandes, Erwin Petersen. Doch habe sich auch gezeigt, dass nicht alle Systeme gleich leistungsfähig seien. „Wo man Schwächen erkannt hat, sollte die Autoindustrie sie daher weiter entwickeln. Auch die Vorschriften müssen eindeutig noch verbessert werden“, meint er.

„Die Technik ist weiter als der Gesetzgeber“, sagt auch Andrea Marongiu, die Geschäftsführerin des Verbands Spedition und Logistik Baden-Württemberg. Der Fall Mannheim sei heikel, gesteht er. Zahlen dazu, wie oft ein System Hindernisse nicht oder falsch erkannt habe, gebe es im Verband keine. „Wir sagen grundsätzlich, jedes Assistenzsystem ist besser als nichts. Damit werden Unfälle vermieden, oder sie verlaufen glimpflicher.“ Zwar gebe es etwa im Baustellenbereich, bei neuen Streckenführungen, wenn ein Bagger oder ein Schild in die Fahrspur hineinrage, hin und wieder einen Fehlalarm. „Doch das passiert zum Glück selten“, versichert Marongiu.

Die Systeme sind unterschiedlich wirksam

Auf den Autobahnen in Baden-Württemberg hat es im Jahr 2017 – die Zahlen für 2018 gibt das Innenministerium erst im März bekannt – 271 Unfälle am Stauende mit Lkw-Beteiligung gegeben. Dabei wurden neun Personen getötet und 310 verletzt. 191 dieser Unfälle wurden durch Lkw-Fahrer verursacht. Auf das Konto dieser Unfälle gehen alle neun Tote sowie 70 Schwer- und 150 Leichtverletzte.

Seit dem Jahr 2017 Pflicht

Seit November 2015 müssen alle neu zugelassen Lkw und Busse in der EU mit Notbremsassistenz-Systemen ausgerüstet sein, so genannten NBA oder AEBS (Advanced Emergency Breaking Systems). Es gibt sie, je nach Hersteller, serienmäßig oder als Sonderausstattung. Die Systeme sollen Kollisionen mit vorausfahrenden langsameren oder stehenden Fahrzeugen verhindern oder zumindest abmildern. Dafür warnen sie zunächst optisch und akustisch. Wenn der Fahrer nicht reagiert, lösen sie im letzten Moment eine Notbremsung aus. Dabei sind die aktuell auf dem Markt befindlichen Systeme nach einer Untersuchung der Landesverkehrswacht Niedersachsen „unterschiedlich wirksam“.

Bei Bedarf – etwa bei einer Fehlwarnung oder wenn er einem Hindernis noch ausweichen kann – kann ein Fahrer das Assistenzsystem kurzfristig übersteuern. Das geschieht etwa durch einen sogenannten Kick down auf das Gaspedal, durch Blinken oder eine Lenkbewegung beim Ausscheren. Dabei wird das System aber nur für einige Sekunden ausgeschaltet.