In der Nacht auf Dienstag schießt ein Polizist im Stuttgarter Osten einen 36-Jährigen nieder. Der hatte es offenbar darauf angelegt, getötet zu werden – das belegt ein Abschiedsschreiben. Die Polizei geht von Notwehr des Beamten aus.

Lokales: Christine Bilger (ceb)

Stuttgart - Wie im Film ist den Anwohnern an der Landhausstraße die Szene vorgekommen, die sich in der Nacht zum Dienstag vor ihrer Haustür abgespielt hat. Kurz nach Mitternacht fielen vier Schüsse. Der letzte traf einen Mann, er brach zusammen. Die ganze Straße war abgesperrt, rechts und links gingen Polizisten zwischen den geparkten Autos in Deckung. So schilderte ein Augenzeuge das Geschehen.

 

Der Mann, den die Kugel traf, starb wenig später im Krankenhaus, noch im Schockraum bei der Aufnahme. Er hatte die ersten beiden Schüsse abgefeuert – aus einer Schreckschusspistole. Da er nach mehreren Aufforderungen und einem Warnschuss nicht innegehalten und die Waffe auch nicht aus der Hand gelegt hatte, habe ein Beamter auf den Mann geschossen, um ihn zu stoppen.

Die Tat angekündigt

Das Opfer hatte den Einsatz selbst ausgelöst. Und seit Dienstag Nachmittag geht die Polizei davon aus, dass der Mann durch Kugeln aus einer Dienstwaffe sterben wollte. „Suicide by Cops“, also Selbstmord durch die Polizei nennen die Amerikaner diese Art der indirekten Selbsttötung. Was die Stuttgarter Beamten bislang nur aus den Medien als Phänomen in den USA und aus wenigen Beispielen in anderen Gegenden Deutschlands kannten, wurde für sie traurige Gewissheit, als sie mehrere Hinweise entdeckten. Einträgen in sozialen Netzwerken und einer handschriftlichen Notiz zufolge habe der Mann sterben wollen. Diese habe die Polizei gefunden, als sie die Wohnung des Mannes durchsuchte, sagte der Polizeisprecher Jens Lauer. Auch einem Bekannten gegenüber soll der 36-Jährige sich entsprechend geäußert haben.

Zehn Minuten nach Mitternacht hatte der Mann aus dem Stuttgarter Osten bei der Polizei angerufen und gesagt, er werde nun auf die Straße gehen und um sich schießen. Als die ersten Streifenwagen an der Landhausstraße eintrafen, lief der Mann tatsächlich schon auf der Straße mit einer Waffe umher. Die Beamten sperrten den Bereich ab, „auch damit keine anderen Personen gefährdet werden, die eventuell noch unterwegs waren“, sagte Jens Lauer. Im Laufe der Nacht waren an der Landhausstraße rund 20 Beamte im Einsatz.

Der Mann war der Polizei bekannt

Der Mann war vor der fatalen Begegnung in der Nacht für die Polizei kein Unbekannter gewesen. Er sei in der Vergangenheit mehrfach aufgefallen, durch „Gewalt- und Rohheitsdelikte“. Unter anderem habe er sich Körperverletzungen und Widerstand gegen Polizeibeamte zu Schulden kommen lassen. In seinem Umfeld wird vermutet, dass der Arbeitslose ein Alkoholproblem hatte. Ob er in der Nacht, in der er starb, betrunken war, muss laut Polizei noch untersucht werden. Einen konkreten Anlass für seinen Selbstmord haben die Ermittlungen bisher noch nicht ergeben. Am Morgen suchte die Polizei den Bereich auf Höhe der Hausnummer 120 an der Landhausstraße ab. Die Beamten spürten dabei die Patronenhülsen aus den beiden verwendeten Waffen, der des 36-Jährigen und der des Polizisten, auf.

Über das Phänomen des „Suicide by Cops“ gibt es in den USA schon wissenschaftliche Studien. In jüngster Vergangenheit hat es in Wiesbaden einen belegten Fall gegeben, in dem es ein junger Mann darauf angelegt hatte, von Polizisten erschossen zu werden. Er war im Januar 2012 mit einer Softair-Pistole auf die Polizei zugegangen. Anders als im aktuellen Stuttgarter Fall kam der 25-jährige Wiesbadener nicht zu Tode, er wurde von einer Beamtin durch einen Schuss in den Unterschenkel aufgehalten.

Polizisten dürfen bei Notwehr und Nothilfe schießen

Es gibt zwei Gründe, warum die Polizei zur Waffe greifen darf: Die Notwehr und die Nothilfe. Im vorliegenden Fall gehe man von Notwehr aus, da sich die Beamten selbst bedroht fühlen. Nothilfe wäre gegeben, wenn eine andere Person angegriffen wird und die Polizei einschreitet. Der Mann sei auf die Polizeibeamten zugegangen, mit der Waffe in der Hand. Dann habe er Schüsse abgegeben. Dass es eine Schreckschusswaffe war, die er in der Hand hielt, habe man weder sehen noch am Schussgeräusch erkennen können. Dass der Mann nicht durch einen Schuss ins Bein gestoppt worden sei, könne an den Sichtverhältnissen in der Nacht gelegen haben, aber auch daran, dass sich der 36-Jährige bewegte.

„Bevor ein Polizeibeamter schießt, muss eine sehr hohe Hemmschwelle überwunden werden“, sagt Günter Loos, Sprecher im Innenministerium. Der Gebrauch der Schusswaffe sei für seine Kollegen immer „nur die äußerste Maßnahme“, so Loos.

Polizei geht von Notwehrsituation aus

Immer wenn ein Polizist zur Waffe greift und schießt, wird der Einsatz von der Polizei einerseits, aber auch von der Staatsanwaltschaft andererseits untersucht. „Wir untersuchen, ob der Einsatz gerechtfertigt und damit durch das Gesetz abgedeckt war“, sagt Claudia Krauth, die Pressesprecherin der Stuttgarter Staatsanwaltschaft. Ergebe sich bei der Untersuchung ein Anfangsverdacht, dass der Beamte regelwidrig gehandelt habe, werde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. „Ich kann mich aber nicht erinnern, dass wir den Fall hier in Stuttgart schon mal hatten“, sagt Krauth.

Bei der Stuttgarter Polizei geht man davon aus, dass die Notwehrsituation klar vorgelegen habe. „Er ging trotz mehrerer Warnungen weiter auf unsere Kollegen zu“, sagte der Polizeisprecher.