„Tomás Nevinson“ von Javier Marías Marías’ letzter Roman
In seinem Roman „Tomás Nevinson“ hat der kürzlich verstorbene spanische Altmeister Javier Marías noch einmal alle Register seines Könnens gezogen.
In seinem Roman „Tomás Nevinson“ hat der kürzlich verstorbene spanische Altmeister Javier Marías noch einmal alle Register seines Könnens gezogen.
Geheimdienstagenten, die ihre Dispute mit Shakespeare-Zitaten austragen, Paare, die sich ihre Liebe mit Yeats-Zitaten gestehen – das gibt es nur in den Romanen von Javier Marías. Im Fall von „Tomás Nevinson“, dem letzten Werk des kürzlich verstorbenen spanischen Schriftstellers, das jetzt in der vorzüglichen Übersetzung von Susanne Lange auf Deutsch vorliegt, hat sich der Verfasser sogar dazu herabgelassen, im Nachwort für die literaturgeschichtlichen Banausen all die Autoren aufzuzählen, die er mit Zitaten in seinen Roman eingearbeitet hat. Dieses zur Schau gestellte Bildungswissen werden seine Verächter als Überorchestrierung kritisieren, seine Verehrer wohl aber als altmeisterlich feiern.
Wie Honoré de Balzac greift auch Marías in einem neuen Werk gern auf Figuren zurück, die seine Leserinnen und Leser schon aus seinen früheren Romanen kennen. „Tomás Nevinson“ schließt sich an „Berta Isla“ an, fängt dort an, wo der Vorgängerroman aufgehört hatte. Der Titelheld, halb Spanier, halb Engländer, hatte jahrelang für den britischen Geheimdienst undercover gearbeitet, wahrscheinlich im Umfeld der nordirischen Terrororganisation IRA, und war offiziell für tot erklärt worden, bis er als Mittvierziger plötzlich wieder bei seiner Frau Berta Isla in Madrid auftauchte. Seine Stelle an der britischen Botschaft in der spanischen Hauptstadt, die er jetzt wieder einnimmt, scheint ihn allerdings nicht auszufüllen, denn schon nach wenigen Jahren im Agentenruhestand lässt er sich von seinem alten Auftraggeber zu einer neuen Mission überreden.
Hier kommt wieder Bertram Tupra ins Spiel, sein ehemaliger Führungsoffizier beim britischen Geheimdienst, den Marías-Leser schon aus „Dein Gesicht morgen“ und aus „Berta Isla“ kennen. Sein Auftrag an Nevinson lautet: Er soll eine Terroristin identifizieren, die für die baskische Eta an Anschlägen beteiligt war und jetzt, mit einer neuen Identität versehen, in einer Kleinstadt untergetaucht ist. Das Problem: Drei Frauen kommen dafür in Frage, diese Terroristin zu sein – eine Restaurantbesitzerin, eine mit einem Stadtrat verheiratete Lehrerin und die Ehefrau eines lokalen Bauunternehmers. Tomás Nevinson soll herausfinden, welche von ihnen das gesuchte Eta-Mitglied ist. Dafür muss er unter falschem Namen als Englischlehrer in diese Kleinstadt ziehen, sich dort an die drei Frauen heranpirschen und, sobald er die Richtige identifiziert hat, diese diskret „ausschalten“.
Ein Agententhriller also, und auch wenn es Marías gelingt, die Spannung bis zum Schluss aufrechtzuerhalten, muss man sich auf dem Weg dorthin auf die bei diesem Autor erwartbaren Abschweifungen einlassen. Die liest man gerne, wenn es sich dabei um das Sittengemälde einer nordspanischen Provinzstadt handelt. Oder wenn der Geheimdienstoffizier Tupra noch stärker als in den früheren Romanen als unheimliche Figur charakterisiert wird und nun fast die Züge von Dostojewskis Großinquisitor aus den „Brüdern Karamasow“ annimmt. Über Marías’ Altherrenerotik dagegen ließe sich streiten, und die ausführliche Abrechnung mit dem Terrorismus der Eta gehört eher in einen Leitartikel als in einen Roman. So ist „Tomás Nevinson“ der Schlussstein zu einem Werk geworden, dessen Schreibstil mit all seinen Manierismen einer zu Ende gehenden Epoche angehört.
Javier Marías: Tomás Nevinson. Roman. Aus dem Spanischen von Susanne Lange.S.-Fischer-Verlag, 736 Seiten, 32 Euro.