Der niederländische Dirigent, Organist und Cembalist Ton Koopman hat mit seinem Ensemble Amsterdam Baroque bei der h-Moll-Messe seine sehr besondere Sicht auf Bach vorgestellt. Im Gespräch erwachsen seinem musikwissenschaftlichen Eifer interessante und skurrile Thesen.

Stuttgart - Die Musik fängt nicht an, und sie hört auch nicht auf. An diesem Abend, bei Bachs großer katholischer Messe in h-Moll, ereignet sie sich. Einfach so – als sei sie schon immer da gewesen, als habe sie sich ganz alleine, gleichsam aus sich selbst heraus in Bewegung gesetzt. Man nimmt nichts Gemachtes wahr, nichts Konstruiertes. Vor den 24 Chorsängern und von den Orchestermusikern des Ensembles Amsterdam Baroque steht Ton Koopman. Seine ersten Bewegungen sind so ausladend, dass, wer um den musikalischen Werdegang des Niederländers weiß, in ihnen nicht nur ein Anschubsen der Mitwirkenden hin zu einer starken, tänzerisch auftrumpfenden ersten Schlagzeit sehen, sondern auch die Überdeutlichkeit eines dirigierenden Autodidakten aus ihnen herauslesen mag.

 

Dabei mangelt es dem bald 74-Jährigen keineswegs an Selbstsicherheit: So gelassen steht er da, so ruhig setzt er sich zwischendurch an seine Orgel (Bach selbst, sagt er später, habe dies übrigens keineswegs getan, sondern bei eigenen Aufführungen Bratsche gespielt, also in der Mitte des Orchesters gesessen, und das mit gutem Grund). So selbstverständlich kleidet Koopman die Bassstimme in eben jener farbigen, verspielten Art aus, die ihm seit jeher eigen ist, so frei lässt er die Musik fließen, so lapidar bringt er manch mächtigen Satz zu einem schlichten Ende, das keine wirkungsvolle Fermate nötig hat. Und so dynamisch tritt er außerdem auf die Bühne, dass man ihm sofort abnimmt, wenn er verrät, dort vor allem „Spaß haben“ zu wollen.

Vieles klingt wie ein großes Klangband

Koopman steht für Darbietungen auf den zweiten Blick: Leise wirken diese, pastellen, gedeckt – auch weil sich nicht, wie sonst häufig, die Bläser vor den Streichern dynamisch in den Vordergrund drängen. Nur manchmal bricht sich die Liebe des Dirigenten zu markanten Rhythmen Bahn – wie etwa im „Cum sancto spiritu“ des Gloria-Satzes, das klingt wie ein Tanz mit dem Heiligen Geist. Und, nebenbei, wie ein Musterbeispiel ausgefeiltester Chorarbeit: Wie da subtil Crescendi, Decrescendi und Schwelltöne angesetzt, Beschleunigungen und Verlangsamungen einzelner Stimmen ins Ganze eingebaut und mit den anderen Stimmen vernetzt werden: Das ist ein Meisterstück.

Vieles klingt wie ein großes Klangband, und man muss gut zuhören, um die Feinheiten darin zu hören, das detailliert Ausgearbeitete, das selten prominent nach außen tritt. Im Fokus steht – bei allem spürbaren Verständnis für die dichte Beziehung der Musik zum Text – der Klang, nicht das Wort. Und es geht weniger um einzelne Ereignisse als um eine große Erzählung, einen großen Bogen.

Ein bisschen wirkt diese Haltung wie aus der Zeit gefallen. Heute musiziert man aufgeregter, aufregender, detailbesessener, auch genauer (in unseren Tagen würden Dirigenten deshalb etliche der bei Koopman intonatorisch wie artikulatorisch schwächelnden Instrumental- und Vokalsolisten ohne viel Aufhebens entlassen). Vielleicht fehlt manchen heute auch der lange Atem, den jene Pioniere der historisch informierten Aufführungspraxis noch hatten, zu denen auch Koopman sich rechnen darf. Oder auch die Persönlichkeit, das Originelle.

Bachs „Kunst der Fuge“, behauptet Koopman, war keineswegs unvollendet

Das spürt man schon am frühen Nachmittag, als sich der Niederländer zu einem launigen Gespräch mit dem Dramaturgen Henning Bey beim Musikfest-Café im Hospitalhof einfindet. Erst gestern, erzählt Ton Koopman da in exzellentem Deutsch mit niederländischem Zungenschlag, habe er die h-Moll-Messe in Palma de Mallorca aufgeführt – erstmals „in offener Luft“, das sei ein Ereignis gewesen. Und übermorgen wird er in Japan sein, dort dirigiert er drei Mal die h-Moll-Messe.

Puh, mag man da denken. Wenn man ein einziges Stück so häufig spielt – woher kommt dann die Inspiration? „Vom Studium der Autographe“, sagt Koopman. Von Handschriften. Immer wieder hat er sich Bachs Originalstimmen und -partituren vorgenommen, immer wieder neue Details in ihnen entdeckt, Bezüge auch zu Bekanntem („Bach war omnivor, ein Allesfresser, der unterschiedliche Einflüsse aufnahm“). Über alledem hat er auch eigene, oft schrille, vielleicht aber gar nicht so falsche Ideen zu offenen Fragen der Musikgeschichte entwickelt. So ist er sich zum Beispiel sicher, dass Bach 1705 nicht etwa nur deshalb nach Lübeck wanderte, um dort den großen Dietrich Buxtehude zu hören und von ihm zu lernen – das habe der Komponist damals gar nicht mehr nötig gehabt. Nein, Bach habe schlichtweg bei einer „Mucke“ Geld verdienen wollen – durch sein Mitwirken bei einer von Buxtehudes Abendmusiken. Und sei hinterher nach Hamburg gegangen, um dort Händel zu treffen.

Eine Mischung aus Wissenschaft, Spekulation und skurrilem Humor

Auch zu Carl Philipp Emanuel Bach hat Koopman seine eigene Meinung: Dieser habe, davon ist er fest überzeugt, den Wert seines Vaters erhöhen, ja, einen Mythos schaffen wollen und deshalb nicht nur unter dessen „Kunst der Fuge“ die Bemerkung geschrieben, dass der Meister über den letzten Tönen eines unvollendeten Werkes verschieden sei, sondern den Schluss des mitnichten unfertigen Stücks selbst irgendwo versteckt. Irgendein findiger Musikwissenschaftler werde die Noten gewiss bald finden.

Zu dieser Mischung aus Wissenschaft, Spekulation und skurrilem Humor passt, dass der Dirigent seine abgeschlossenen Gesamtaufnahmen sämtlicher Bach-Kantaten und sämtlicher Werke Dietrich Buxtehudes auf einem eigenen Label mit dem sprechenden Namen Antoine Marchand veröffentlicht hat. Antoine Marchand: Ton Koopman. Ach ja, und ein Buch über Bach würde er auch noch gerne schreiben, aber viel Neues müsste darin stehen, Eigenes, aber ohne den Anspruch auf Vollständigkeit. Und überhaupt, sagt der Dirigent: „Vielleicht ist es manchmal auch gut, dass man nicht alles weiß.“ Lächelt, verneigt sich, und dann ist er auch aus der Musikcafé-Zeit herausgefallen.