Seine „Schöne Maid“ war 1971 der Anfang einer großen Schlagerkarriere, auch wenn seine Liebe immer der Oper galt. Der Sänger Tony Marshall ist jetzt 75 Jahre alt geworden. Der StZ-Redakteur Robin Szuttor hat ihn besucht.
Baden-Baden - Bestimmt trägt er ein knallbuntes Sakko. Quietschfidel wird er sein, über beide Ohren strahlen. Zur Begrüßung wird er wahrscheinlich die Arme ausbreiten und einem ein übersprudelndes „Hallo“ entgegenschmettern. Womöglich stimmt er dazu gleich sein berühmtes „Hoojahoojahooo“ an. Tony Marshall, die alte Stimmungskanone.
Er kommt ganz in Schwarz. Ein kurzer Händedruck, ein leises „Guten Morgen“. Er setzt sich, bestellt Kaffee. Seine Stimme klingt müde, er muss erst warm werden. „Fragen Sie mich einfach, was Sie interessiert.“
Bei Marshalls Stammgriechen in Baden-Baden
Wir sind bei Christoforos, seinem Stammgriechen in Baden-Baden, nicht weit von Marshalls Elternhaus. Christo ist ein Schlagerfan, aus seinem Radio singen Cindy und Bert „Aber am Abend, da spielt der Zigeuner“. Den Rauchersalon hat der Wirt zur „Tony-Marshall-Galerie“ verwandelt. Für das kleine Erinnerungsmuseum brachte der Star tausend Trophäen und Andenken rüber in die Gaststube: die Ehrenbürgerurkunde der Südseeinsel Bora Bora, der Marshall mit seinem Hit viele Touristen geschenkt hat. Die Auszeichnung als „Lachender Lorbser“ des Karnevalsvereins Erbach. Der Goldpokal vom Kurpfälzer Trabanten e. V. für seine Verdienste um das deutsche Lied. Die Ernennung zum „Weinpilger“ der Bechtheimer Winzer neben den Flaschen mit dem original Tony-Marshall-Eierlikör und dem Tony-Marshall-Wein, einem spritzigen Spätburgunder mit viel Körper. Der Sänger trinkt gern ein gutes Tröpfchen.
Das gläserne Edelweiß ist von „Frau im Spiegel“, der Silberne Löwe von Radio Luxemburg. Die Goldene Stimmgabel überreichte ihm damals Dieter Thomas Heck. Auch so ein Weggefährte. Alte Fotografien zeigen Tony Marshall mit Engelbert, mit Rudi Carrell, mit Bata Illic – „was haben wir damals für Gaudi gehabt“. Viele Freunde vergangener Schlagertage sind inzwischen tot: Bernd Clüver, Freddy Breck, Bert von Cindy und Bert, Rex Gildo, Roy Black. „Für Rex und Roy war ich immer eine Vaterfigur.“ Oft sind sie nach Auftritten zu ihm gekommen – „Tony, kann ich mit dir reden?“ – und haben ihm ihr Herz ausgeschüttet. Nur Christian Anders, der war immer in seiner eigenen Welt. Mit seinem weißen Rolls-Royce. Seinen Starkapriolen. In der „Hitparaden“-Garderobe hat er auf Marshall runtergeblickt, als sei der „irgendein Häppeldäppel“. Dabei war er Anfang der Siebziger schon oben, der Erfolg wollte gar nicht aufhören. Einige seiner goldenen Ariola-Singles hängen jetzt bei Christo. Jüngst hat Tony Marshall seinen 75. Geburtstag gefeiert. „Es ist phänomenal, wie ich in dem Alter noch das Stimmvolumen halten kann“, sagt er und gibt am Restauranttisch eine beeindruckende Kostprobe.
Ein Kind der Weststadt
Als Herbert Anton Hilger kommt er 1938 in der Baden-Badener Dollenstraße zur Welt. Ein Kind der Weststadt, wo die kleinen Leute wohnen. Unten im Haus haben die Eltern einen Kolonialwarenladen mit geschrubbtem Dielenboden und großem Salzgurkenfass, Mehl und Zucker werden in Tüten abgewogen. Wer sonntags noch einen Maggi-Würfel für die Suppe braucht, läutet bei Hilgers.
Sein Held der Kindheit ist Billy Jenkins, der Cowboy, später Mario Lanza, der Opernsänger. „Als ich ihn auf Platte hörte, war ich wie vom Schlag getroffen. Die Kraft, die er aus der Tiefe des Körpers holte und hinausschallen ließ.“ Herbert Anton Hilger will auch auf die Bühne und so singen wie Lanza, Enrico Caruso, Beniamino Gigli, Rudolf Schock.
Er arbeitete als Klempner und Croupier
Für Gaby, seine spätere Frau, singt er im Treppenhaus. Sie wohnt in der Erwinstraße, die Verlängerung der Dollenstraße runter zum Oosbach. Fünf Jahre gehen sie miteinander, bevor sie sich 1959 verloben. Mehr Nähe als einen Kuss gibt es in der Zeit nicht. 1962 die Heirat. Sie ist immer treu an seiner Seite gestanden, er verehre sie von Tag zu Tag mehr, sagt Marshall. Er war nicht so treu.
Herbert Anton Hilger ersingt sich ein Stipendium an der Musikhochschule in Freiburg. Er beherrscht bald sechs Instrumente, nebenher tritt er als Chansonnier auf. „Viele Opernsänger tun sich schwer mit der einfachen Unterhaltungsmusik. Sie haben ihre Stimme so trainiert, dass sie anfangen zu knödeln. Damit hatte ich nie Probleme.“
Er arbeitet auf dem Bau, als Klempner, als Großhandelskaufmann, als Croupier im Baden-Badener Spielcasino. Aber sein Ziel ist die Bühne. 1966 gewinnt er einen Nachwuchswettbewerb. Erster Preis: ein Plattenvertrag. Jetzt ist Marshall im Geschäft. Die Marketingstrategen taufen Herbert Anton Hilger zu Tony Marshall um, verpassen ihm auch gleich eine neue Vita. Die lautet so: geboren in Nancy, hat Tony die ersten Kinderjahre in Frankreich verbracht. Erst nach dem Krieg ist er mit seiner Mutter nach Baden-Baden gezogen. Diese Geschichte verkauft sich besser, heißt es. Trotzdem liegen „Aline“ und die nächsten Aufnahmen wie Blei in den Regalen. Marshall muss auf große Tingeltour durch Discos. Ewige Autobahnfahrten, Auftritte im Akkord, wenig Geld: nach einem Jahr Schinderei macht er Kassensturz – und konzentriert sich fortan lieber auf den Club 68, eine Baden-Badener In-Kneipe, die er mit seiner Frau betreibt.
Der neue Küchensound
Eines Abends glauben die Gäste, draußen fährt ein Panzer vor. Es ist nur der Ford Mustang Mach 1 von Jack White. Der stiefelt im schneeweißen Pelzmantel auf den Clubchef zu: „Tony, das ist alles zu grüblerisch, was du da machst“, sagt er. „Die Leute wollen mitsingen und einfach glücklich sein.“ White erfindet für ihn den Küchensound mit Blechtöpfen und reichlich Kochgeschirr als Taktgeber. Als er das Lied „Schöne Maid“ aufgenommen hat, das von Textzeilen wie „Hojahojaho“ und „Hopsassa trallala japadapadu“ dominiert wird, bereut es der Sänger schon beim Verlassen des Berliner Tonstudios. Auch seine Freunde warnen ihn: Mit dem Gestammel machst du deinen Ruf als ernst zu nehmender Sänger kaputt. Marshall versucht vergebens, aus dem Plattenvertrag herauszukommen
Doch dann zündet die Rakete. Die Maid beschleunigt von null auf 175 000 verkaufte Singles. Tony Marshall wird zu Heck eingeladen. Und im deutschen Showbusiness gilt ein Gesetz: Wer in die „ZDF-Hitparade“ kommt, der hat’s geschafft. Nach dem Auftritt bei der „Rudi Carrell Show“ schießt der Song endgültig ins All: 48 Wochen in der Hitparade, 28 Wochen unter den Top Ten. Bald ist die erste Million geknackt. Auch die Langspielplatte verwandelt sich in Gold. Marshall hat bis zu drei Auftritte pro Tag. Wo er auftaucht, ist die Hütte voll. Und sein Manager kann an der Preisschraube drehen, wie es ihm beliebt: 4000 Mark, 6000 Mark, 8000 Mark, 12 000 Mark. „Wir haben Umsätze gemacht, von denen Künstler heute nur träumen.“ Marshall lernt die Branche kennen. Hinter den Kulissen wird mit eiserner Härte um jede Sendeminute gekämpft. „Ein Hauen und Stechen, von dem sich das Publikum keine Vorstellung macht.“
Tonys Hitmaschine
Tonys Hitmaschine läuft weiter hochtourig, es bleibt kaum Zeit zum Nachdenken: „Ich fang für euch den Sonnenschein“, „Ach, lass mich doch in deinem Wald der Oberförster sein“, „Heidideldum und holldrio“, „Junge, die Welt ist schön“, „Täterätätätätä“, „Komm gib mir deine Hand“, „Mach dir das Leben doch schön“ (das Lied der „ARD-Fernsehlotterie“). Heute kann er auf mehr als 300 Lieder zurückblicken. Jahrzehntelang behauptet er sich als Unterhaltungsgröße. Ob bei Galas oder bei der Möbelhauseröffnung – auf Tony ist Verlass, er gibt immer alles, egal auf welcher Bühne. Das wissen die Veranstalter, und das spüren seine Fans – „das Publikum ist ja nicht doof“. 1982 startet seine TV-Show „Lasst das mal den Tony machen“. 1997 bekommt er die ZDF-Sendung „Viva la Musica“.
Der schönste Moment in seinem Künstlerleben? Kein Hit, kein Auftritt, kein Preis. Eine einfache Begegnung. Mit Rudolf Schock, dem lyrischen Tenor, dem Idol seiner Kindheit. „Er hat mir das Du angeboten – ,ich bin der Rudi‘.“
Der Fröhlichmacher der Nation
Am liebsten, und das ist vielleicht Marshalls großes Lebensthema, wäre er selbst Belcantosänger geworden. „Die Oper und die großen Arien werden noch leben, wenn der Schlager längst tot ist“, sagt er. Er hätte gern mehr von seiner Vielseitigkeit gezeigt, als er ganz oben war. „Stattdessen hat man mich zum Schubladenkünstler gemacht.“ Am Etikett „Fröhlichmacher der Nation“ sei er fast erstickt – daran, „für die Leute nicht mehr als Trallala und Hopsassa zu sein“.
Sein Sohn habe ihn da rausgeholt, sagt Marshall senior. Marc, der als Musiker inzwischen auch eine große Nummer ist, produzierte vor fünf Jahren eine CD mit dem Vater. Darauf sang er Chansons und Klassiker wie „My Way“. Tony Marshall als deutscher Sinatra, Charles Aznavour oder Tom „der Tiger“ Jones. Endlich. „Wie neu“, hieß die Platte.
Marc Marshall hat auch Gesang studiert. Mit der Soulkönigin Aretha Franklin sang er in Washington ein Bühnenduett. Sein Festival lockt jedes Frühjahr die feinsten Jazzer nach Baden-Baden. Mit Smoking und Fliege steht er als klassischer Entertainer auf der Bühne und lässt seine Baritonstimme klingen. Oder er tritt mit Jay Alexander als „Marshall & Alexander“ auf, die ein Musikkritiker „die deutschen Bocellis“ nannte. Etwas Ähnliches hätte Tony Marshall früher auch gern über sich gelesen. „Marc lebt meinen Traum“, sagt er.
Die Medienwelt wird ihm immer fremder
Der Senior ist immer noch präsent, zuletzt als Stargast der „Winterzauberland-Revue“. Und doch wird ihm die Medienwelt immer fremder. Alles so respektlos. Auf den TV-Schirmen rekeln sich nur noch nackte Frauen. Stefan Raab darf dreimal hintereinander „ficken“ in seiner Sendung sagen: „Ich weiß nicht, wo das noch enden soll.“ Dann lieber bei Christo bei einem Glas Rotwein sitzen und eine Schale mit Meeresfrüchten genießen.
Es gehe ihm gut, sagt Tony Marshall. Die Achillessehne mache ihm etwas zu schaffen. Der Sänger verlor Millionen, weil er in ostdeutsche Schrottimmobilien investiert hatte. Aber von einer Pleite, wie die Boulevardpresse schrieb, könne keine Rede sein. Er habe noch die Häuser, den Wohnsitz in Spanien, seinen Mercedes 600, Baujahr 75, mit gerade mal 34 000 Kilometern. Schwer auszuhalten war der Tod seines Cousins, der einen langen Leidensweg gehen musste. Siechtum ist für Marshall die schlimmste Vorstellung. Für Gott und die Kirche hat er nicht viel übrig, er verlässt sich lieber auf seine schriftlich fixierte Patientenverfügung. „Seele? Gott? Was ist das? Der einzige Gerechte ist der Tod“, sagt er. Jeder müsse das Beste aus seinem Leben machen. Jeder sei für etwas da auf der Erde. „Ich bin da, um den Leuten Freude zu bereiten, das war mir noch nie eine Anstrengung.“