Der Syrienkrieg ist längst im Libanon angekommen. In verfeindeten Stadtteilen in Tripoli bekämpfen sich die Gegner und Anhänger von Assad. Viele Bewohner haben Angst ihre Wohnung zu verlassen.

Tripoli - Vielleicht kann man den Wahnsinn ein wenig erahnen, wenn man Maad Younis Abdullah besucht. Im Hausflur steht das Wasser, Kabel hängen von den verschmierten Wänden. Die Betontreppe führt hinauf zu seiner Wohnung, oben im vierten Stock. Den ganzen Tag liegt der 55-Jährige auf seinem braunen Sofa, ein dickes Kissen im Rücken. Seit 15 Jahren ist der ehemalige Malermeister gelähmt, ein Arbeitsunfall, wie er sagt. Decke und Wände um ihn herum sind gesprenkelt mit aufgeplatzten Löchern, wie Kratzwunden. In jedem Loch steckt eine Kugel. Das Haus von Maad Younis Abdullah steht direkt an der Front, draußen auf seinem Balkon sieht der Putz aus wie ein Streuselkuchen, der braune Vorhang an der Tür flattert zerfetzt im Morgenwind.

 

Wenn der Feuerhagel losgeht, kann Maad Younis Abdullah nicht weg, er sitzt starr vor Angst auf seinem Sofa, während die Geschosse durch Balkontür und Fenster um ihn herum einschlagen. Dreimal hat es ihn erwischt, die letzte Kugel ging ins linke Schultergelenk. Manchmal hat er Glück, dann wagt sich einer seiner Freunde nach oben und schleppt ihn in Deckung. Selbst das goldene Koran-Wandbild ist von einer Kugel zersplittert, einzig das Foto seiner Tochter mit Magisterhut, die in Beirut Jura studierte, hat nichts abgekriegt. Eine sichere Wohnung ein paar Straßen weiter hinten kann sich der Invalide nicht leisten.

So lebt er als menschliche Zielscheibe in diesem so absurden wie mörderischen Kleinkrieg von Tripoli, der zu einem Abbild des großen Bürgerkriegs nebenan in Syrien geworden ist. „Wenn Assad gestürzt wird, bleibt uns nur die Hoffnung auf Gott“, sagt Maad Younis Abdullah. Die bisher 29 000 Toten im syrischen Bürgerkrieg kann er sich nur so erklären, dass die Freie Syrische Armee in ihrem Kampf wahllos Zivilisten als menschliche Schutzschilde benutzt. „Assad tötet doch nicht seine eigene Bevölkerung“, davon ist er überzeugt.

Der syrische Krieg ist längst in Tripoli angekommen, der zweitgrößten Stadt des Libanon. Ausgerechnet Syrienstraße heißt die schmale Einkaufsstraße, die die beiden feindlichen Lager trennt. Jeden Tag kann das Schießen wieder losgehen – zwischen den libanesischen Alawiten an den Hängen des Jabal Mahseen und den Sunniten unten im Viertel Bab al-Tebbaneh. Wie zuletzt vor drei Wochen, als beide Seiten fünf Tage lang mit schweren Maschinengewehren und Panzerfäusten aufeinander losgingen.

Geschossen wird von Küchenfenster zu Küchenfenster

Keine 30 Meter stehen die verfeindeten Häuser teilweise voneinander entfernt, von Küchenfenster zu Küchenfenster feuern die Kämpfer aufeinander, immer mehr Wohnungen sind nur noch schwarze, ausgebrannte Löcher. Am Ende waren auf alawitischer Seite fünf Menschen tot und 30 verletzt, die Sunniten zählten 17 Tote und 133 Verletzte, darunter eine 75-jährige Frau und ein sechsjähriges Kind. Seitdem herrscht nervöse Ruhe, die libanesische Armee patrouilliert entlang der Front mit gepanzerten Fahrzeugen, die beiden Zugangsstraßen zum Alawitenberg werden scharf kontrolliert. 20 000 Alawiten leben hier, umzingelt von 200 000 Sunniten. Die Frauen laufen mit offenen Haaren herum, es gibt Alkohol zu kaufen.

Wer durch die steilen Straßen der Enklave läuft, könnte glauben, er wäre in einem Regimeviertel in Syrien. Die Hauswände sind demonstrativ gepflastert mit Plakaten von Baschar al-Assad zusammen mit den beiden Führern der Kommune, Vater Ali Eid und Sohn Rifaat Eid, die sich den Vorsitz der kleinen prosyrischen Arabisch-Demokratischen Partei teilen. Ihr Sprecher Abdellatif Saleh sitzt mit einem Dutzend Männern den ganzen Tag in einem Eckhaus direkt hinter der Armeesperre, abgeschirmt von einer Barriere aus Sandsäcken. Vier Jahre lang hat der 37-Jährige die Pro-Assad-Enklave nicht mehr verlassen. „Das ist eine Art Gefängnis – sozusagen der Gazastreifen in klein“, sagt er. Bis 2008 war er in einer Spirituosenfabrik angestellt, seitdem ist er arbeitslos.

Die Sunniten im Libanon machen Front gegen Damaskus

Fast drei Jahrzehnte lang hat das mächtige Syrien den Nachbarn nach Belieben dominiert, in der libanesischen Politik die Fäden gezogen. 2005, nach dem Attentat auf Rafik Hariri, musste die syrische Armee auf internationalen Druck abziehen. Die schiitische Hisbollah und eine Minderheit der maronitischen Christen jedoch stehen nach wie vor fest an Assads Seite. Die Sunniten dagegen, zusammen mit der Mehrheit der Maroniten, machen Front gegen Damaskus, eine Konstellation voller Spannungen, die zurückreicht bis in die siebziger Jahre, als PLO-Chef Jassir Arafat in Tripoli das Sagen hatte und sich Gefechte mit dem syrischen Regime lieferte.

„Bei jeder neuen Runde gibt es bessere Waffen“, sagt Ahmed Matter, der in Trainingshose und T-Shirt an einem der Läden an der Frontlinie in der Syrienstraße herumlungert. Sein Bruder betreibt eine Geldwechselbude, er selbst ist arbeitslos. Vor dem Laden nebenan zimmert jemand mit Hammerschlägen Blechgrills zusammen, andere Händler bieten billige Plastikhocker und Besen feil. Das meiste Geld aber geht für Waffen drauf. Eine Kalaschnikow kostet 1200 Euro, die Granate einer Panzerfaust 700 Euro, eine Pistole sogar 2500 Euro. Der Schmuggel über die 30 Kilometer entfernte Grenze zu Syrien funktioniert bestens. Die Alawiten bekommen ihren Nachschub über Hisbollah-Dörfer aus Damaskus, die Sunniten versorgen umgekehrt die syrische Opposition mit Munition und Kampfgerät, das sie teilweise aus Libyen heranschaffen. So haben die verfeindeten Stadtteile – abgesehen von den Waffen – auch anderes gemeinsam: Armut, Angst und Arbeitslosigkeit.

Der Sichtschutz gegen Scharfschützen wird vorgezogen

Jede Kleinigkeit kann sich zu einem Drama auswachsen. Das letzte Mal waren es Kinder, die sich mit Knallkörpern bewarfen, bis einer der Väter mit der Pistole dazwischenging und drei der Kleinen anschoss. Was dann folgt, kennen alle. Oben auf dem Berg werden schwarze Vorhänge quer über die Gassen gezogen, die Stahldrähte dafür sind straff gespannt. Die Tücher dienen als Sichtschutz gegen Scharfschützen. Lautsprecher rufen die Händler auf, ihre Läden zu schließen, und die Bewohner, in Deckung zu gehen. Die ersten Schüsse krachen. „Wir müssen uns verteidigen“, beteuern beide Seiten – und angefangen haben immer die anderen. „Wir werden so lange kämpfen, bis al-Assad weg ist“, sagen die Sunniten. „Wir werden so lange kämpfen, bis die Terroristen besiegt sind“, sagen die Alawiten, die nach eigenen Angaben 1500 Bewaffnete mobilisieren können.

„Wir haben es schwerer, wir müssen bergauf schießen“, klagt der sunnitische Kommandant Shadi Jibara unten am Fuße, dem 30 Bewaffnete unterstehen und der sich damit brüstet, auf der Abschussliste der Alawiten ganz oben zu stehen. Seinen drei Söhnen hat der 39-Jährige die Namen Adam, Abraham und Moses gegeben. Den nächsten Jungen, der in zwei Monaten auf die Welt kommen soll, will er Jesus nennen. Die Kinder teilen sich ein Zimmer, schlafen in Doppelstockbetten, unter denen ihr Vater sein belgisches Val-Scharfschützengewehr sowie Handgranaten aus iranischer Produktion aufbewahrt.

Oben auf dem Dach hat er sich einen Schießstand gebaut. Der Schlitz, durch den er seinen Gewehrlauf steckt, zielt auf eine Betontreppe zwischen zwei Wohnblocks, die hinaufführt ins Feindesland. Eine Panzerfaust der anderen Seite verfehlte sein Schützenloch kürzlich nur um einen halben Meter. „Jede Sekunde musst du hellwach sein“, sagt er und zielt über den Daumen nach drüben. „Drei Stunden sitze ich hinter dem Gewehr, eine Stunde Pause und wieder drei Stunden, bis es dunkel ist.“ Dann macht er Feierabend, steigt die zwei Etagen hinab in seine enge Wohnung.

Im Niemandsland ist ein freundliches Gespräch gefährlich

Drei Leute hat er bisher getötet, wahrscheinlich kannte er sie alle mit Namen. So auch die beiden jungen Männer, die sich an diesem Nachmittag unter seinen Augen mitten auf der Treppe im Niemandsland treffen, um miteinander zu reden. Was in jeder Stadt normal ist, gilt hier schnell als Verrat. „Wenn ich unten wäre, würde ich den Kontakt verbieten“, sagt Shadi Jibara. Seit vier Jahren ist der Straßenkampf sein Lebensinhalt, vorher war er mit einer Essenskarre durchs Viertel gezogen, hatte den Händlern Tee und Brot zum Frühstück verkauft.

Sich selbst nennt er einen „überzeugten Salafisten“, in den sunnitischen Gassen seiner Gegend hängen schwarze Islamflaggen, wie sie bei Al-Kaida üblich sind. „Keine tausend Dollar“ hat ihn die Bücherwand in seiner Wohnung gekostet. Stolz posiert er vor den Regalmetern aus frommen Ratgebern, Koranwerken und einer Geschichte des Islams in zehn Bänden. Wenn die Lautsprecher das nächste Mal Alarm geben, wird Shadi Jibara wieder über die Betontreppen hoch in sein Scharfschützennest rennen. Und drüben bei Maad Younis Abdullah jagen wieder die Kugeln ins Wohnzimmer.