Der Radprofi Simon Geschke gewinnt nach einer 49 Kilometer langen Solofahrt die erste schwere Alpenetappe bei der Frankreichrundfahrt. Dabei war der Berliner ursprünglich gar nicht für die Tour vorgesehen.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Pra Loup - Für Simon Geschke ging dieser Mittwochnachmittag in die Verlängerung. Es muss ein ziemlich ungewohntes Gefühl für den 29-jährigen Berliner gewesen sein. Wenn er den Zielstrich überquert, interessiert sich üblicherweise kaum einer für ihn. Er kann unbehelligt zum Bus, sich erholen und auf den nächsten Tag vorbereiten. So, wie es alle tun, die wie er ihr Geld in der anonymen Domestiken-Branche verdienen. Nun aber, oben im Bergdorf in Pra Loup in den Alpen rissen sich alle um den Mann mit dem markanten Vollbart. Er, der doch immer nur Nebendarsteller ist, hatte auf einmal eine Hauptrolle. Die erste in seiner Karriere.

 

Da stand er dann, der Mann des deutschen Teams Giant-Alpecin, die Augen noch ein wenig feucht, Tränen waren geflossen, kurz nachdem er mit einem Urschrei das Ziel der 17. Etappe der Tour de France erreicht hatte. Als Erster. Ja, wirklich. Als Erster. Er, Simon Geschke. Auf einer schweren Alpenetappe. „Das ist der schönste Tag in meinem Leben“, sagte der Radprofi.

Geschke sollte bei der Tour eigentlich nicht starten

Ausgerechnet Geschke. Es ist eine in vielerlei Hinsicht außergewöhnliche Geschichte. Der Berliner sollte gar nicht hier sein. Sein Platz war eigentlich an Sprintstar Marcel Kittel vergeben, doch nachdem der von Giant-Alpecin wegen Formschwäche nicht nominiert wurde, durfte er doch mit. Dass er nun dem Rennstall den ersten Etappensieg bei dieser Tour beschert, ist eine weitere Volte dieser Geschichte. Nicht der Star des Teams, John Degenkolb, der alles versucht hat, aber den Erfolg oft knapp verpasste, sondern er rettet die Bilanz. In den Vorjahren hatte das Team durch Marcel Kittels Siege regelmäßig Grund zum Feiern. „Dieses Jahr war es bisher sehr schwer für uns“, sagt er. Bis Mittwoch.

Durch den Erfolg von Geschke haben deutsche Fahrer bei dieser 102. Tour bereits fünf Etappen gewonnen: dreimal war André Greipel erfolgreich, einmal Tony Martin, und nun also der Berliner. „Wir können stolz auf die Entwicklung im deutschen Radsport sein“, sagte er. Die Frankreichrundfahrt hat auch dieses Jahr wieder einen starken deutschen Akzent. Und einen Berliner Zungenschlag.

Niemand hat erwartet, dass er eine Etappe gewinnt

Es ist ja eigentlich nicht der Job des Mannes, zu gewinnen. Geschke ist einer dieser harten Arbeiter im Peloton, von denen die Öffentlichkeit meist kaum Notiz nimmt. Er ist der Geleitschutz für die Kapitäne, zum Beispiel für den Paris-Roubaix-Sieger John Degenkolb. Wenn die Stars gewinnen, ist es auch sein Sieg, nur am Ende der Karriere tauchen sie nicht in seinem Palmarés auf. Dieser schon. Es ist seiner. „Niemand hat ja erwartet, dass ich eine Etappe gewinne.“

Er ist ein starker Radfahrer, sonst wäre er nicht bei der Tour, ab und an bekommt er auch Ausgang und darf sich in Ausreißergruppen tummeln, vornehmlich dann, wenn das Profil so aussieht, als ob die Kapitäne nicht für einen Erfolg infrage kommen oder die Topografie zu anspruchsvoll ist, als dass er wertvolle Helferdienste leisten könnte. Geschke ist schnell, aber nicht schnell genug, er ist bergfest, aber nicht bergfest genug. Der Allrounder holt Wasserflaschen für Degenkolb oder den in der Gesamtwertung sehr gut platzierten Franzosen Warren Barguil, er fährt Löcher zu und macht Tempo, ganz so, wie es von ihm verlangt wird. Er gibt seine Kraft, damit andere ihre sparen können und am Ende glänzen und seine Arbeit veredeln. „Das ist eine extrem wichtige Arbeit“, sagt Geschke.

Ein gewaltiger Soloritt über 49 Kilometer in den Alpen

Vor allem in der ersten Tour-Woche war er als wichtiger Helfer im Einsatz, dann bekam er die Fahrerlaubnis für Gruppen. Und so war Geschke am Mittwoch Teil einer 28-köpfigen Spitzengruppe, aus der er sich 49 Kilometer vor dem Ziel mit der „Brechstange“ (Geschke) löste, davonfuhr – und sich 32 Sekunden vor Andrew Talansky ins Ziel rettete. „Unglaublich“, sagte Geschkes Sportdirektor Marc Reef: „Es ist großartig, nach so einem Solo über fast 50 Kilometer zu gewinnen.“

In der Gesamtwertung verteidigte der Brite Christopher Froome seine Führung, er kam rund sieben Minuten hinter Geschke zeitgleich mit Nairo Quintana ins Ziel. Alberto Contador verlor nach einem Sturz viel Zeit und liegt nun 6,40 Minuten hinter Froome zurück. Tejay van Garderen, vor der Etappe Dritter, musste die Tour am Mittwoch krankheitsbedingt aufgeben.

Aber zurück zu Simon Geschke, der Figur dieses Tages: Am Vortag saß der 29-Jährige am Ruhetag im Teamhotel von Giant-Alpecin und sagte, dass er auf den perfekten Tag warte. Auf den großen Sieg. Er warte auf den Moment, an dem alles passe. Stunden später war dieser Tag gekommen.

„Jeder träumt als Kind von so einem Sieg. Ich wusste, dass ich durch die Schmerzgrenze durch muss. Ich hatte noch Krämpfe am letzten Anstieg, aber heute hat alles gepasst“, sagte er. „Soviel habe ich ja in meiner Karriere noch nicht gewonnen.“