Bis zu einer Million Radsport-Fans wollen den Auftakt der 104. Tour de France in Düsseldorf verfolgen. Erst zum vierten Mal beginnt die Frankreich-Rundfahrt auf deutschem Boden.

Düsseldorf - Thomas Geisel ist begeisterter Radfahrer. Zudem hat er Talent als Turner, und das zeigt der Oberbürgermeister von Düsseldorf auch gerne. Während ein paar Meter weiter, auf der großen Bühne am Burgplatz, die letzten Proben für die Präsentation der Tour-Teilnehmer laufen, zieht der 53-Jährige sein Sakko aus. Der Chor aus Grundschulkindern, der auf seinen Einsatz wartet, staunt nicht schlecht, als der OB plötzlich ein Rad schlägt – und gleich noch eines. Geisel lächelt, als Kameraleute und Fotografen um die beste Position ringen. Der Mann, der in Ellwangen auf der Ostalb aufwuchs, liebt solche Auftritte. Er hat den Grand Départ der Tour de France in seine Stadt geholt. Ein bisschen für sich, aber natürlich vor allem, weil es seinem Selbstverständnis entspricht, dass eine pulsierende Stadt wie Düsseldorf Gastgeber sportlicher Großereignisse sein muss. Auch wenn dies einige Klimmzüge und manchen Spagat auf politischer Bühne erfordert.

 

Ein Beziehungsdrama

Zwischen dem Kurfürstendamm in Berlin und der Düsseldorfer Königsallee liegen knapp 500 Kilometer und 30 Jahre. 1987 startete die Tour letztmals in Deutschland, damals in Berlin, im Westteil der Stadt, die Mauer stand noch. Seither ist viel passiert. Auch im Radsport. Düsseldorf traut sich nicht nur, die besten Profis der Welt an diesem Samstag auf ihre 3511 Kilometer lange Reise zu schicken, am Rhein und auf der Königsallee soll sogar ein Volksfest stattfinden. Mit mindestens 700 000 Besuchern, Optimisten hoffen gar auf eine Million. „Die Deutschen“, sagt Christian Prudhomme, der Chef des Rennens, „scheinen ihren Frieden mit der Tour gemacht zu haben.“ Es ist noch nicht lange her, da schien dies undenkbar.

Die Geschichte des Radsports in Deutschland erinnert an ein Beziehungsdrama. Eine ganze Nation verliebte sich plötzlich in Jan Ullrich, als der jugendliche Held 1997 als erster Deutscher im Gelben Trikot auf die Avenue des Champs-Élysées in Paris einbog. Schnell wurde Leidenschaft daraus, Ullrich mit Leib und Seele vereinnahmt. Kam er mit zu viel Speck aus dem Winter, hätte ihm die Nation am liebsten eine Diät verordnet – Szenen einer Ehe, die in einer bitteren Enttäuschung endete.

Tests am Lügendetektor

2006 stand Ullrichs Name auf der Liste des Dopingarztes Eufemiano Fuentes, viele seiner Telekom-Kollegen gestanden, betrogen zu haben. Die Deutschen fühlten sich, als sei die Liebe des Lebens fremdgegangen. Während die Zuneigung in anderen Ländern Skandal um Skandal aushielt, weil sie, verwurzelt in Tradition und Kultur, langsam gewachsen war, wollte in Deutschland niemand mehr etwas mit Radsport zu tun haben. Nach nicht mal zehn Jahren war die scheinbar so große Liebe zerbrochen, kein Kitt in Sicht. Um die Scherben zusammenzukehren, brauchte es eine neue Generation.

Zumindest nennen sich Tony Martin, Marcel Kittel und John Degenkolb so: die neue Generation, anders sozialisiert und sensibilisiert, aber dennoch speziell. Keiner von ihnen wird je die Tour de France gewinnen, erfolgreich sind sie trotzdem – als Zeitfahrer, in Sprints, bei Klassikern. Und sie siegen sauber, zumindest sagen sie das bei jeder Gelegenheit, vorzugsweise öffentlich. Sie haben sich für ein Antidoping-Gesetz ausgesprochen, Tests am Lügendetektor bestanden. Sie werden als glaubwürdig wahrgenommen. Im Vergleich zur Ära Ullrich bejubeln Fans und Medien ihre Leistungen zwar weniger überschwänglich, weil mittlerweile jeder weiß, wie schmerzhaft der Kater nach einer rauschenden Feier sein kann.

Doch Martin, Kittel und Degenkolb ist es gelungen, dem klinisch toten Radsport neues Leben einzuhauchen. „Wer hätte vor zehn Jahren gedacht, dass wir irgendwann mal wieder einen Tour-Start in Deutschland haben werden“, sagt Tony Martin, „ich bin stolz, dass ich meinen kleinen Teil dazu beigetragen habe.“ Dabei soll es allerdings nicht bleiben.

Beete zeigen Motive der Tour de France

Martin ist der Weltmeister im Kampf gegen die Uhr, die erste Etappe der Tour praktischerweise ein Zeitfahren. Weshalb der Plan für diesen Samstag ein einfacher ist: Martin siegt – und an der längsten Theke der Welt bricht das Gelbfieber aus.

Anzeichen einer Infektion gibt es in Düseldorf schon länger. Zumindest muss das glauben, wer sich leichtsinnigerweise für den Newsletter der städtischen Pressestelle angemeldet hat. Ein Virus hätte den Redaktionsrechner kaum mehr beschäftigen können. Eine Mail nach der anderen wurde verschickt, meist ging es um Aktionen vor dem Tour-Start. Es gab Ausstellungen („Die Welt hat Pedale“), Vorlesungen in der Stadtbücherei („Velomanie?!“), einen Radwettbewerb für Kinder („Petit Départ“), ein Buchprojekt („Radtour durch Zeit und Raum“), einen Weltrekord im Aquacycling und und und. Auch die städtische Gärtnerei hatte viel zu tun. Allein im Nordpark wurden mehr als 100 000 Blumen gepflanzt, sämtliche Beete zeigen Motive der Tour de France, darunter 13 stilisierte Rennfahrer, die französische Nationalflagge sowie die unterschiedlichen Trikots, die es zu gewinnen gibt. Und auch die Altstadt hat sich geschmückt.

Kultband Kraftwerk gibt ein Konzert

Die Fassaden sind bemalt und beklebt, die Balkone dekoriert. In vielen Pflanzkübeln stecken gelbe Räder. An jeder Ecke sind Feste geplant – und auch ein paar außergewöhnliche Aktionen. Auf dem Rhein eskortieren Düsseldorfer Ruderclubs in ihren Achtern die Radprofis beim Zeitfahren. Die Düsseldorfer Kultband Kraftwerk gibt ein Open-Air-Konzert und wird ihr komplettes Album „Tour de France“ spielen, in der Melanchthonkirche ist klassische Musik zu hören unter dem Motto „Tour de Bach“. Mehr geht nicht. Kritiker gibt es trotzdem oder gerade deswegen.

Sebastian Reh ist Fahrradkurier in Düsseldorf. 18 000 Kilometer legt er pro Jahr auf den Straßen der Stadt zurück. Er interessiert sich für Radsport, weshalb er sich über das Gastspiel der Tour freut. Er hofft aber auch, dass etwas zurückbleibt, wenn die Profis wieder weg sind – zum Beispiel die Erkenntnis, dass es mehr braucht, um eine radfreundliche Stadt zu sein. „Viele schöne Radwege gibt es bei uns nicht“, meint Reh, „und ein paar mehr könnten es auch sein.“ Das sieht Carsten Wien ganz ähnlich. Er ist Geschäftsführer des Düsseldorfer Radlertreffs „Schicke Mütze“ und erklärt: „Die Tour muss Spuren hinterlassen, es muss eine breitere Akzeptanz für das Radfahren her. Seit Jahrzehnten gibt es in der Stadtverwaltung nur die Direktive: Auto, Auto, Auto.“ Wirklich zu rechnen ist mit einem Umdenken aber nicht, zumindest nicht schnell, denn erst mal wird es um die Kosten gehen.

Kostengünstige Werbung

Rund 13 Millionen Euro gibt Düsseldorf für den Tour-Auftakt aus. Allein die Lizenzgebühr an den Veranstalter ASO macht 4,5 Millionen Euro aus, daneben schlägt vor allem die Organisation zu Buche. Während mehrere Tausend, teils schwer bewaffnete Polizisten die Sicherheit in Düsseldorf gewährleisten sollen, muss die Stadt rund 2000 Helfer stellen, die verantwortlich sind, dass an der Strecke nichts passiert. Benötigt werden dafür zum Beispiel Container als Barrieren, die Lastwagen aufhalten können, 110 Kilometer Absperrgitter und elf Stahlrohrbrücken. Die Verwaltung rechnet zwar mit Einnahmen von acht Millionen Euro, weil aber ein Großteil der Sponsoren Unternehmen sind, die der Stadt gehören oder an der sie beteiligt ist, sagt die Düsseldorfer FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann: „Der Grand Départ ist überflüssig, eine Verschwendung von Steuergeldern.“

Thomas Geisel sieht das natürlich anders, ganz anders. Er rechnet den Umsatz dagegen, den Hotels und Gaststätten machen. Er sieht die vielen Stunden im TV als kostengünstige Werbung für seine Stadt. Und er denkt ohnehin ein bisschen größer, ungefähr so wie Emmanuel Macron. Der französische Staatspräsident sprach dem OB und den 15 000 Düsseldorfern bei der Teampräsentation auf dem Burgplatz seinen Dank aus: „Sie werden heute ein wenig Franzosen sein, und die Franzosen werden dank Ihrer so dynamischen und strahlenden Stadt ein wenig Deutsche sein. Es ist eine Botschaft der Freundschaft an ganz Europa.“ Da kann man vor lauter Begeisterung schon mal ein Rad schlagen und danach gleich noch eines.