Sie ist nicht die größte und auch nicht die schönste der französischen Kathedralen. Aber als Schauplatz von Geschichte und Geschichten ist Notre-Dame bei Touristen in Paris so beliebt wie nie.

Wohin zieht es jährlich 14,3 Millionen Paris-Touristen? In die Kirche zieht es sie. Die Betonung liegt auf die Kirche. Denn der in diesen Augusttagen alle Rekorde sprengende Ansturm gilt allein ihr, Notre-Dame, der auf der Seine-Insel Île de la Cité errichteten Kathedrale. Der Rest der Hauptstadt-Touristen entfällt auf die üblichen Verdächtigen wie Montmartre, Louvre und Eiffelturm. Laut den neuesten Zahlen des Büros für Tourismus und Kongresse in Paris bringen sie es auf elf (die Basilika), neun (das Museum) und sieben Millionen Besucher (der Turm). Damit belegen sie auf der nach unten offenen Beliebtheitsskala die Plätze zwei, drei und vier.

 

Die Rede vom Ansturm führt freilich insofern in die Irre, als zum Stürmen zurzeit leider der Platz fehlt. Stundenlang anstehen muss, wer sich Notre-Dame auch nur nähern will. Die Heerscharen von Sportschuh-, Tagesrucksack- und Sonnenbrillenträgern tun dies mit bewundernswerter Disziplin. Wie von höheren Mächten gelenkt, formiert sich die multinationale Streitmacht zu einem U von gut einhundert Metern Seitenlänge.

Hier brüskierte Napoleon den Papst und ließ ihn warten

Das U beginnt vor dem Eingangsportal der Kathedrale, wo es dann auch wieder endet. Wer auf halbem Weg den Bauch des U erreicht hat, steht vor der Pariser Polizeipräfektur. Das ist ein guter Ort, um Notre Dame aus kritischer Distanz zu betrachten und sich zu fragen, was diese Sehenswürdigkeit anderen voraushat.

Gewiss, die Pariser Kathedrale ist groß – und sie ist schön. Die je nach Lichteinfall weiß oder orange schimmernde Kalksteinfassade, das in der Mitte eingelassene Rosettenfenster, darunter die drei Portale, gesäumt von in Stein gehauenen Engeln, Aposteln und Königen – das hat was. Aber die größte und schönste der französischen Kathedralen ist diese Kirche nun wirklich nicht. Dass der Eintritt umsonst, die Temperatur im Sommer drinnen niedriger ist als draußen, vermag den Massenandrang auch nicht abschließend zu erklären.

Was Notre-Dame heraushebt, ja einzig macht, ist denn auch etwas Anderes, etwas, wofür sie nichts kann, was ihr zugefallen ist: ihr wechselvolles Schicksal. Als Schauplatz von Geschichte und Geschichten kann es kein Sakralbau mit ihr aufnehmen. Hier war es, wo Napoleon den Papst brüskierte, ihn warten ließ, sich selbst die Krone aufsetzte. Hier hat General de Gaulle zu Te-Deum-Lobgesängen die Befreiung von Paris gefeiert. Und hier hat der Schriftsteller Victor Hugo 1831 seinen Roman „Der Glöckner von Notre-Dame“ angesiedelt, der in gut einem Dutzend Filmen, Opern und Musicals wiederauferstehen und um die Welt gehen sollte.

Am Kirchenhimmel sehen die Besucher Quasimodo

Quasimodo haben die Besucher vor Augen, wenn sie ins Dunkel der Kathedrale eintauchen, zum 33 Meter hohen Kirchenhimmel hinaufblicken. In der Gestalt Anthony Quinns sehen sie den buckligen Glöckner vor sich, wie er in Jean Delannoys Film zu sehen war. Steht da oben nicht auch die von Quasimodo angehimmelte Esmeralda alias Gina Lollobrigida? Von Kronleuchtern und Kerzen spärlich erhellt, verschwimmen im Kirchenschiff die Konturen, tun sich der Fantasie Räume auf. Wenn dann die Orgel erklingt, Chöre Bachkantaten anstimmen, finden Vergangenes und Gegenwärtiges, Wunsch und Wirklichkeit aufs Vortrefflichste zusammen.

Glockenschläge hallen über den Platz. Der Klang ist nicht voller, nicht mächtiger als anderer Glockenklang. Dabei sind die im Turmgebälk hängenden Bronzeungetüme zur Feier des 850-jährigen Bestehens der Kathedrale erst 2013 erneuert worden. Aber anders als in anderen Gotteshäusern gibt es hier auch noch einen Quasimodo, der den Glocken zu nahe gekommen und darüber taub geworden ist.