Stadtführungen liegen im Trend. Für Stuttgart Marketing werden deshalb über mehrere Wochen hinweg elf neue Stadtführer, die Touristen und Einheimische über Stuttgart aufklären, ausgebildet. Ein Kursbesuch.

Architektur/Bauen/Wohnen: Andrea Jenewein (anj)

Stuttgart - Herbert Rudolph Medek schaut auf die Uhr. Es ist ein Samstag, kurz vor 10 Uhr. Ein paar wenige seiner Teilnehmer fehlen noch. „Absolute Pünktlichkeit ist Voraussetzung“, sagt Medek. Aber noch sind es ja noch ein paar wenige Minuten, bis der Kurs anfängt – und bis dahin sitzen alle elf Teilnehmer an ihren Plätzen im Vortragsraum des Graf-Eberhard-Baus.

 

Absolute Pünktlichkeit, die wird von ihnen auch erwartet, wenn sie den Kurs durchlaufen und ihre Prüfung abgelegt haben – und dann Touristen durch Stuttgart führen dürfen. Medek schaut wieder auf seine Uhr und nickt zufrieden. Er arbeitet bei der Denkmalschutzbehörde, ist zudem seit 35 Jahren Stadtführer sowie Buchautor – und leitet die Stadtführer-Ausbildung seit den 90er Jahren des vergangenen Jahrtausends im Auftrag von Stuttgart-Marketing.

Wichtig ist, zu den Menschen zu reden und nicht zum Objekt

Seitdem hat er Dutzenden von Teilnehmern nicht nur beigebracht, pünktlich zu sein, sondern ihnen auch aufgezeigt, wie man „Führungen richtig hält“. Wichtig sei vor allem, zu den Menschen zu reden und nicht zum Objekt. „Das klingt banal, aber leider sieht man viel zu oft Stadtführer, die auf den Kirchturm zeigen und den Teilnehmern den Rücken zudrehen“, sagt er. Weitere Grundregeln seien, dass ein Stadtführer nichts erklären soll, was man nicht sieht („Hinter dieser hohen Mauer ist ein wunderschöner Park“), und dass er neutral bleiben soll.

An diesem Vormittag hält Medek einen Vortrag zum Thema „Vom Marktplatz zum Milaneo – Märkte und Handel in der Stuttgarter Geschichte“, der am Mittag durch eine Tour durch die Markthalle komplementiert wird. Denn freilich ist die Vermittlung von Stadtentwicklungsgeschichte die zweite große Aufgabe von Medek. An den vier vorherigen Samstagen haben die Teilnehmer schon einiges über das Uracher Vulkanfeld und das Jurameer, die Zeugenberge und die menschliche Besiedelung gehört. „Das ist die Basis“, sagt Medek, „das muss man einmal gehört haben, um die Zusammenhänge zu verstehen.“

„Ich habe schon drei Mienen leer und zwei Blöcke voll geschrieben“

Zurück zum Thema des Tages: Medek streift das Marktrecht, erwähnt die ersten Märkte in Stuttgart – und erzählt dann ausführlich, dass im kalten Winter 1862 eine Verkäuferin auf dem Marktplatz erfror. Daraufhin stiftete 1864 König Wilhelm I. die „alte“ Markthalle. Die Teilnehmer schreiben alle fleißig mit. Dagmar Kötting stöhnt und verdreht gespielt die Augen: „Ich habe schon drei Mienen leer und zwei Blöcke vollgeschrieben.“ Sie lacht. Tatsächlich schätzt die 52-Jährige, die seit ihrem siebten Lebensjahr in Stuttgart lebt und „die Stadt unwahrscheinlich gerne mag“, den riesigen Fundus an großen und kleinen Geschichten, die Medek zu vermitteln weiß. Leben, so ist sich die freie Journalistin bewusst, könne man allein von den Stadtführungen allerdings nicht – sich aber sehr wohl durch dieses „tolle Hobby“ etwas Geld dazuverdienen.

Josua Hong ist auf ungewöhnliche Weise zu seiner neuen Leidenschaft gestoßen. Der 30-jährige Ingenieur ist in Stuttgart geboren und hat koreanische Wurzeln. Als er vor einiger Zeit eine Freundin seiner Frau aus Korea durch Stuttgart führte, war diese so begeistert, dass sie ihn fragte, ob er das nicht professionell machen wolle. Da die Tour die kleine Gruppe auch am i-Punkt vorbeiführte, erkundigte sich Hong spontan, wie man Stadtführer werden könne. Er erfuhr, dass die Kurse alle zwei bis drei Jahre stattfinden, er sich bewerben müsse – und dann zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen würde. Jetzt ist er da – und Dank ihm wird Stuttgart-Marketing künftig eine weitere Sprache neben den neun bisherigen anbieten können: Koreanisch.

Die Gäste wünschen sich vermehrt Unterhaltung, unterfüttert mit ein paar Fakten

Das ist gut so. Denn Stadtführungen boomen. Die Region Stuttgart verzeichnet jedes Jahr mehr Gäste. Hinzu kommt, dass die Bewohner der Region Stuttgart ihre eigene Region entdecken und besser kennen lernen wollen. Auch Geschäftskunden, so Medek, würden mehr Wert auf ihre Frizeitgestaltung legen und durchaus mal eine Stadtführung mitmachen. Insgesamt habe sich der Anspruch stark gewandelt: Die Gäste wünschen sich vermehrt Unterhaltung, unterfüttert mit ein paar geschichtlichen Fakten. Führungen hingegen, die ausschließlich Stadtgeschichte zum Thema haben, werden laut Sandra Nörpel von Stuttgart-Marketing wenig nachgefragt.

Medek ist stolz auf die Ausbildung, die er vermitteln darf – und ohne die keiner für Stuttgart-Marketing Stadtführungen abhalten darf. Die Ausbildung sei beispielgebend: „Ich habe schon in anderen Städten Vorträge über unsere Ausbildung gehalten“, sagt Medek. In wenigen Wochen allerdings wird er nicht vortragen, sondern zuhören. Dann sind seine Schützlinge dran. Sie werden erst schriftlich geprüft, dann mündlich. Dabei müssen sie selbst auf einer Tour führen – „und keiner weiß, wann er dran ist“, sagt Medek. Also, nicht vergessen: unbedingt pünktlich anfangen. Auf ein pünktliches Ende der Führung indes muss der Prüfling nicht achten. Schließlich ist es ein Gütezeichen, wenn ein Stadtführer es schafft, dass man die Zeit ganz und gar vergisst.