Am Sonntag wird die Tower Bridge in London 125 Jahre alt. Sie kann nicht nur auf eine bewegte Geschichte zurück blicken, sondern zählt heute auch zu den größten Attraktionen im Königreich.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

London - Für Chris Earlie ist die Tower Bridge fraglos das Wahrzeichen Londons – „während Big Ben das Vereinigte Königreich als Ganzes symbolisiert“. Der Chef der wohl berühmtesten Brücke der Welt, den man früher den Brückenmeister genannt hätte, darf das Wahrzeichen in seiner Obhut in diesem Sommer feiern. Am Sonntag wird die Brücke am Tower 125 Jahre alt.

 

Lange Schlangen am Nordwest-Turm der Brücke, am Eingangsportal zum Innern der mächtigen Pfeiler, zum Oberdeck, zu den Ausstellungen und zum separaten Maschinenraum, unterstreichen die Anziehungskraft, die das Bauwerk bis heute ausübt. 850 000 Besucher, mehr denn je, verzeichnet Tower Bridge inzwischen im Jahr. Droben auf der doppelten Fußgänger-Passage, heute streckenweise mit gläsernen Böden ausgestattet, kommt man kaum an all den Familien vorbei, die sich und den Verkehr 34 Meter tiefer unbedingt aufs Handy bannen müssen.

Im Tower-Bridge-Laden an der Südseite der Brücke decken sich Scharen von Touristen mit kleinen Klappbrücken aller Art und Größe ein. Sogar eine schüttelbare Schneekugel mit der Tower Bridge gibt es, obwohl es an der Themse eigentlich nie schneit. Nicht dass die Brücke bei ihrer Einweihung vor 125 Jahren schon so beliebt gewesen wäre.

Auch die Mächtigen müssen gelegentlich warten

Zeitgenössische Kritiker sprachen von einer „absurden Struktur“, einer „angeberischen und protzigen“ Erscheinung. „Denen gefiel vor allem der neugotische Stil nicht“, erklärt Chris Earlie. „Dass die Brücke den Tower of London zu kopieren suchte, gleich nebenan.“ Uneingeschränkten Beifall erntete freilich die spätviktorianische Ingenieurskunst hinter der Fassade aus Portland-Stein. Kühn war der Bau auf jeden Fall. In Minutenschnelle ließen sich die beiden Mitte-Fahrstreifen hochklappen. Anfangs benutzte man noch gewaltige Dampfmaschinen zu diesem Zweck.

Eine Bevölkerungs-Explosion in Ost-London im 19. Jahrhundert hatte eine neue Brücke an dieser Stelle erforderlich gemacht. Die London Bridge, etwas weiter westlich, kam nicht mehr mit dem Verkehrsaufkommen zurecht. Weil aber die Themse von der Mündung bis zur London Bridge damals Hafengebiet war und von Fracht- und Lastschiffen wimmelte, brauchte man ein Spezialkonstrukt, das relativ unbehinderten Schiffsverkehr zuließ. Die Pflicht zur Öffnung der Brücke bei Bedarf, und zwar kostenfrei für alle durchfahrenden Schiffe, war von Anfang an Gesetz.

Mittlerweile muss zwar, wer sein Schiff durch die Brücke steuern will, dies 24 Stunden vorher ankündigen. Aber absolute Priorität hat, wenn das einmal geregelt ist, noch immer der Schiffsverkehr. Auch die Mächtigen müssen gelegentlich warten. Als der damalige US-Präsident Bill Clinton bei einer Etappe seines London-Besuchs 1997 etwas verspätet dran war, blieb er an der Zufahrt zur Brücke prompt stecken – zum Entsetzen seiner Bewacher. Der präsidentielle Wagenkonvoi fand sich in zwei Teile gespalten, während ein Segelschiff namens Gladys seelenruhig seiner Wege zog.

Mehrere Piloten flogen im Lauf der Jahre widerrechtlich durch die Brücke

Eine Herausforderung war die Tower Bridge schon immer. Legendär sind die Geschichten jugendlicher Taucher, die sich von der Brücke schwangen, oder des Fallschirmjägers, der beweisen wollte, dass sich ein Fallschirm öffnen würde. (Er tat’s.) Mehrere Piloten flogen im Lauf der Jahre widerrechtlich durchs luftig-lockende Viereck der Brücke. Glücklicherweise überstand die Brücke das ebenso wie die Bombenangriffe des Zweiten Weltkriegs. Bei den ersten Luftwaffe-Angriffen drohte sie noch in Flammen aufzugehen. Aber später entkam sie den Bomben weitgehend. Nach Ansicht Earlies war sie den deutschen Bomber-Piloten unbeschädigt nützlicher: „Sie benutzten sie als Einflugs-Markierung, als visuellen Wegweiser zur Stadt.“

Ganz ungefährlich war es freilich auch in der Nachkriegszeit nicht auf der Brücke. Unvergessen geblieben ist der 30. Dezember 1952, als der Brückenwärter vergaß, vor dem Aufziehen der Brücke die Warnglocke zu läuten und die Straße zu sperren. Einem Busfahrer der Linie 78, der plötzlich entdeckte, dass er abhob, blieb nichts anderes übrig, als den Fuß aufs Gaspedal zu drücken und mit seinem Gefährt über eine bereits 90 Zentimeter lange Kluft zu setzen. Glücklicherweise war die andere Fahrbahnhälfte noch nicht angehoben. Und obwohl die Höhendifferenz fast zwei Meter betrug, wurde niemand ernstlich verletzt.

Im Schnitt wird die Brücke nur noch drei Mal am Tag hochgezogen

Heute ist natürlich alles automatisiert – und die alten Dampfmaschinen sind Museumsstücke. Aufregung gibt es nur noch, wenn ein Angehöriger der „Freemen“ der City of London von seinem angestammten Recht Gebrauch macht und eine Schafherde über die Brücke zu treibt. Dann stockt der Verkehr ebenfalls. Da kann man nichts machen. Tradition ist Tradition.

Seit der Londoner Hafen den Geist aufgegeben und die alten Werften und Lagerhäuser an der Themse in Luxuswohnungen umgewandelt wurden, herrscht auf dem Wasserweg natürlich nicht mehr so viel Betrieb wie vor 125 Jahren. Im Schnitt wird die Brücke nur noch drei Mal am Tag hochgezogen. Im Hochbetrieb des Jahres 1910 geschah das an einem einzigen Tag noch 64 mal. „Heute haben wir vor allem Flußschiffahrt, Touristen-Boote, manchmal Raddampfer, Kreuzfahrtschiffe oder Groß-Segler“, erklärt Chris Earlie. „Manche Skipper verlängern auch ihren Mast um ein wimpelgeschmücktes Stückchen, damit sie die Höhe erreichen, bei der wir die Brücke hochziehen müssen.“

Ein Gerücht über die Tower Bridge hält sich hartnäckig

Mittlerweile sucht die Brücke, die es längst auch zu James-Bond-Prominenz geschafft hat, ihr kommerzielles Potenzial zu nutzen. Sie bietet neuerdings zum Beispiel Räume für Hochzeiten an. Gleichzeitig dient sie „öffentlichen Statements“: Wie 2012 während der Olympischen Spiele in London, als fünf riesige olympische Ringe an ihr hingen.

Mit einem Schmunzeln begegnen die Hüter der Brücke unterdessen dem sich noch immer hartnäckig haltenden Gerücht, um ein Haar wäre die Tower Bridge 1968 nach Lake Havasu City Arizona geschafft worden – der Käufer der London Bridge, US-Motorsägen-Millionär Robert P. McCulloch, habe damals die Tower Bridge mit der London Bridge verwechselt habe, hieß es ja. Es war immer nur ein – hübsches – Gerücht. Aber schmeichelhaft findet Brückenmeister Earlie es trotzdem, wenn Besucher „seine“ Brücke versehentlich London Bridge nennen: „Das zeigt doch, wie sehr die Tower Bridge zum Symbol für London geworden ist.“