Viel Rummel um ein Gewand: auf dem Münchner Oktoberfest und dem Stuttgarter Wasen ist die Tracht Standard. Doch wird immer klarer: Tracht ist nicht gleich Tracht

Es gibt sie aus Baumwolle oder Kunststoff, mit Karo- oder Afrikamuster, waden- oder oberschenkellang. Hat irgendjemand in München noch kein Dirndl? Kaum vorstellbar, denn Tracht ist dort Mode, und zwar längst das ganze Jahr über. Man geht inzwischen im Dirndl zur Erstkommunion, zur Abiturfeier und zur Hochzeit. Seit den 1990er Jahren ist das fesche Gewand an der Isar zur Statusmeldung geworden, ein „Mia san mia“ aus Stoff und Ösen. Zur Wiesnzeit aber ist der Ausnahmezustand zu melden: Männer aus aller Welt, die sonst Businessanzüge tragen, treten in der Stadt und in den Zelten scharenweise in Lederhosen und Haferlschuhen an, Frauen aller Berufsstände kleiden sich in üppige, bunte Kleider, mit denen – vom noblen Angermaier bis zum Discounter Kik – Textilvermarkter bundesweit immer noch gute Geschäfte machen.

 

Ist ein Ende des Trachtenbooms abzusehen?

Die Verkaufszahlen hatten sich in den vergangenen Jahren sogar vervierfacht, kein Ort mehr zwischen Freilassing und Garmisch-Partenkirchen, dessen Hauptstraße nicht von Trachtenshops verschönert wird. Während der Hype aber gen Nordrhein-Westfalen und Berlin zieht, wo längst eigene Bierpartys abgehalten werden, scheint in Bayern die Begeisterung vor allem für die in absurden Längen, Farben und Formen käuflichen Billig-Dirndl allmählich abzunehmen. Zumindest hielten sich die Münchner Anbieter im Kleidungssegment zur Wiesn-Halbzeit mit Erfolgsmeldungen auffällig zurück. Die genauen Zahlen wollen sie tatsächlich erst nach Festende bekanntgeben. Ist also ein Ende des Trachtenbooms abzusehen? Nicht unbedingt sagt Max Bertl, der Vorsitzende des bayrischen Trachtenverbandes, denn viele der schrillen Kreationen seien „Oktoberfestgewänder“, aber keine Tracht. Die jungen Leute hätten darin beim Feiern „eine Freud’, und das ist doch etwas Schönes“. Nur verwechseln dürfe man die beiden Kategorien halt nicht.

Vielleicht kommt man am weitesten damit, wenn man das alljährliche „Aufbrezelt is!“ als bald gesamtdeutsches, karnevalsähnliches Event betrachtet – und die getragenen Textilien als Kostüme, die sich längst auf außerbayerischen Volksfesten verbreiten, auf dem Cannstatter Wasen ebenso wie beim Speyrer Brezelfest, wo man 2013 sogar einen „Dirndlweltrekord“ für dass Guinnessbuch schaffte. Eben jenen Rekord will die oberschwäbische Kleinstadt Bad Schussenried an diesem Samstag nach Baden-Württemberg holen. Dazu müssten mehr als 2780 Frauen dort im einschlägigen Gewand erscheinen.

So „geschert“ haben die Bauern nie ausgeschaut

Doch längst sehen viele Seppl und Liesln mit Geißbärten und Zöpfen ja aus wie Karikaturen der zünftigen Landwirte, die ihnen doch scheinbar als Vorbild dienen. Die Betonung liegt auf scheinbar, denn so „geschert“ wie ihre heutigen Wiedergänger haben Bauern und Bäuerinnen ja selbst in den Alpen und Voralpen eigentlich nie ausgeschaut. Die traditionell überlieferten Gewänder namens „Schalk“ etwa, für deren luxuriöse Nachbildung oberbayerische Trachtlerinnen heute bis zu 10 000 Euro anlegen, haben außer dem Grundschnitt kaum etwas gemein mit dem, was heute so über den Rummelplatz getragen wird.

Etwas Dirndlähnliches immerhin, mit engem Mieder, weitem Rock und obligatorischer Schürze, besaßen einst weibliche Dienstboten; gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden solche Teile bei der städtischen Bevölkerung als „ländliches Kleid“ beliebt. In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts setzte es sich dann in der Weltwirtschaftskrise dank der erfolgreichen Operette „Im weißen Rössl“ als Synonym bayerischer und österreichischer, naturverbundener, tendenziell rückwärtsgewandter Ästhetik in der Damenwelt durch.

Der erotische Faktor ist nicht zu unterschätzen

Lust auf Heimatverbundenheit, rurale Sehnsüchte sowie eine neue Freude am Ausleben traditioneller Geschlechterrollen in Zeiten der Globalisierung, Digitalisierung und des Gender-Mainstreaming: viele Faktoren dürften in unseren wirtschaftlich unsicheren Zeiten das Ihre dazutun, wenn Männer wieder vermehrt ihre Virilität mit breitem Hosenlatz und Wadlstrümpfen ausstellen, und Frauen punktuell ihre eher uhrglasartigen Körperformen mit taillierten Kleidern betonen, anstatt sie in Unisex-Anzüge zu zwängen. Nicht zu unterschätzen ist der erotische Faktor, den diese fantasievollen Verkleidungen mit sich bringen. Doch glücklicherweise ist auch der ironische Anteil bei der Wiederaufführung so nie gewesener Heimat- und Traditionsverbundenheit ziemlich hoch. Die meisten Menschen dürften kaum mehr mit der Maskerade verbinden als den Wunsch nach ein paar Stunden zünftiger Gaudi, nach einem kurzen Ausbruch aus grau uniformiertem Alltag und nach der merkwürdigen Form der Verbundenheit, die entstehen kann, wenn alle gleich überdimensionierte Bierkrüge schwenken, denselben Schlager singen und dabei auf den ersten Blick ähnlich gekleidet sind. Wie weit die finanzielle Schere jedoch gerade bei den Dirndlträgerinnen auseinandergeht, lässt sich an jedem beliebigen Tag auf dem Münchner Parkett erleben. In den Boxen der Bierzelte von Schottenhamel, Augustiner und Löwenbräu finden sich neben dem in Pakistan, Indien oder China gefertigten Modell für 39, 90 Euro auch bodenständig Handgenähtes von der Dorfschneiderin für rund 800 Euro oder mit Strass verzierte Swarowski-Versionen für mehrere Tausend Euro. Bei allem Einheitslook: auch das vermeintlich Volkstümliche kennt halt feine Unterschiede.

Der echte Bayer geht bald wieder in Jeans zur Wiesn

Andererseits: Bling-Bling-Dirndl, liest man in bunten Blättern, seien ja so was von out in dieser Saison! Viele Designer setzen anstatt auf Seide wieder auf altbewährte Baumwollstoffe oder Leinen in kräftigen Farben – auch so kann man sich von der auf Tischen tanzenden B-Prominenz absetzen. Wer sich auf Volksfesten allerdings wirklich von den anderen unterscheiden möchte, muss es aber wohl bald treiben wie der Münchner Kabarettist Harry G. Der frotzelt in seinem Videoblog zum Oktoberfest, im kommenden Jahr gehe der echte Bayer wieder in der Jeans zur Wiesn, „damit er nicht mit einem Zuagroasten verwechselt wird“. Genau dieser Trend ließ sich unter jungen Leuten schon auf der diesjährigen Wiesn beobachten.