An Allerheiligen geht es im katalonischen Vilafranca de Penèdes traditionell darum, meterhohe Türme aus Menschen zu bauen.

Vilafranca - Es beginnt alles mit einem Zittern in JoÖn Ferrats Knie: Im dritten seiner sechs Stockwerke fängt der Turm aus übereinandergestapelten Menschen an zu wackeln. Lluâs, der Mann aus der zweiten Turmebene, auf dessen Schultern JoÖn Ferrat steht, packt mit aller Kraft dessen kräftige Waden und versucht den kunstvollen Aufbau zu stabilisieren. Sein Gesicht läuft vor Anstrengung rot an. Lluâs und seine drei Etagenkollegen tragen eine nun unkontrolliert schwankende Last von mehr als 300 Kilo auf ihren Schultern, während immer mehr Menschen an ihren Rücken entlang zur Turmspitze klettern.

 

Inzwischen hat die traditionelle Schnabelflötenmusik, die den Aufbau eines Castells begleitet, ausgesetzt. Für einen Moment ist es fast totenstill auf dem überfüllten Marktplatz des Städtchens Vilafranca de Penedès. Alle Augen richten sich auf Lluâs, JoÖn und die anderen Castellers, wie die Mitglieder einer Turmbaumannschaft genannt werden. Der Schweiß läuft über die Gesichter und Rücken der unteren Castellers. Halten, Halten, Halten ist das Einzige, das nun zählt. So lange, bis das Enxaneta genannte Kind auf die Spitze geklettert ist und den Arm als Signal für den erfolgreichen Aufbau des Turms in die Höhe streckt. Dann muss jedoch noch geordnet abgebaut werden, damit die Formation als gelungen zählt.

Ernste Verletzungen gibt es keine

Doch noch während die fünfjährige Naiara sich Menschenetage für Menschenetage nach oben arbeitet, sackt der Turm in sich zusammen wie ein Kartenhaus. "Fer Llenya" heißt dieser Einsturz in der Terminologie der Castellers, was in etwa "Kleinholz hacken" bedeutet. Wer diesem Schauspiel noch nie beigewohnt hat, dem bleibt jetzt nahezu das Herz stehen. Einige der durcheinanderpurzelnden Leiber fallen immerhin aus der Höhe eines mehrstöckigen Hauses. Doch die Menge, die sich von Baustart an mit erhobenen Händen dicht an die "Colla" genannte Mannschaft gedrängt hat, fängt die Stürzenden zuverlässig auf und führt sie kontrolliert zu Boden.

Ernste Verletzungen gibt es keine. Die Enttäuschung ist jedoch groß, schließlich sollte die besonders schwierige Formation der Mannschaft der Castellers de Vilafranca den Triumph im freundschaftlichen Wettstreit mit zwei anderen Gruppen bringen und den Höhepunkt des Allerheiligenfests in Vilafranca de Penedès darstellen.

Mehr als 60 Colles Castelleres mit insgesamt 16.000 Mitgliedern gibt es in Katalonien. Besonders aktiv sind sie in der Provinz Tarragona, wo die Castells ein fester Bestandteil der Patronatsfeste sind. Alle zwei Jahre finden sich zudem im Oktober die besten Colles in Tarragona zu einer inoffiziellen Olympiade zusammen. Die Castellers de Vilafranca schneiden dabei seit über einem Jahrzehnt als beste Colla ab.

Ausdruck einer erstarkenden nationalen Identität

Dies verwundert kaum, denn die Tradition in Vilafranca, der Hauptstadt des Kreises Alt Penedès, lässt sich mehr als 200 Jahre zurückverfolgen. Damals bildeten drei Mann hohe Menschensäulen den Höhepunkt christlicher Prozessionen. Auch in der Provinz Valencia, die über Jahrhunderte zu Katalonien gehörte, waren Menschentürme Bestandteil traditioneller, "Muixeranga" genannter Tänze des 17. und 18. Jahrhunderts. Als Wiege der Castells in ihrer modernen, sportlichen Form gilt aber die Stadt Valls nahe Tarragona, wo Ende des 18. Jahrhunderts sogar von Straßenkämpfen zwischen den Anhängern rivalisierender Colles berichtet wurde.

"Ich finde es sehr wichtig, dass die Welt erfährt, dass wir Katalanen unsere eigene Kultur haben, die mit Stierkampf und Flamenco nichts zu tun hat", sagt David Miret i Rovira, Leiter der 400 Mitglieder der Castellers de Vilafranca, die auch schon in Paris vor dem Eiffelturm, in Santiago de Chile und in Frankfurt bei der Buchmesse 2006 ihre Türme errichtet haben. Die Wiederbelebung des Castell-Baus, der unter der Diktatur Francos teilweise verboten war, ist Ausdruck einer erstarkenden nationalen Identität in der nordspanischen Region zwischen Pyrenäen und Ebrodelta. Viele Katalanen wünschen sich die Unabhängigkeit von Spanien.

Bereitschaft zu intensivem Training

"Der Castell-Bau ist ein Symbol der Solidarität", sagt Miret i Rovira. "Jeder trägt gleich viel Verantwortung für den gemeinschaftlichen Erfolg." Für das Fundament der Menschentürme benötigt man viele Leute - egal ob jung, alt, kräftig oder schmächtig. Vor allem in kleineren Dörfern stärkt dies den Zusammenhalt der Bewohner. Zu auswärtigen Auftritten der örtlichen Colla zieht meist die halbe Gemeinde mit. Auch in Vilafranca mit seinen 38.000 Einwohnern dominiert der Turmbau das öffentliche Leben. Der lokale Fernsehsender zeigt fast ausschließlich Bilder der drei einheimischen Colles - neben den Castellers gibt es auch noch die Xicots und die Falcons de Vilafranca. Zum Patronatsfest, das die Stadt Ende August fünf Tage lang in einen Ausnahmezustand versetzt, aber auch zum Allerheiligenfest Tot Sants am 1. November pilgern Castell-Anhänger aus ganz Katalonien herbei.

In Vilafranca träumt jedes Kind davon, einmal von der Spitze des Turmes die jubelnde Menge grüßen zu dürfen. Doch dazu muss man nicht nur Geschicklichkeit, sondern auch Disziplin und die Bereitschaft zu intensivem Training mitbringen. Pol Escudero Laporta, Vater von Enxaneta Naiara und selbst Casteller, ist stolz darauf, dass seine Tochter die Tradition weiterträgt. Zwar sei ein Verletzungsrisiko durchaus vorhanden, räumt er ein, jedoch sei es gefährlicher, auf der Straße zu spielen. Tatsächlich kam es in der gut 200-jährigen Geschichte der Castells in Katalonien nur zu drei Todesfällen durch Abstürze: im 19. Jahrhundert, im Jahr 1983 und im Juli 2006. Dieser letzte tödliche Unfall eines zwölfjährigen Mädchens war besonders tragisch. Die heute geltende Helmpflicht für die Kinder und Jugendlichen, die die Spitze der Türme bilden, war bereits beschlossen, aber noch nicht umgesetzt.

Ein letztes Mal werden in Vilafranca de Penedès die schwarzen Bauchbinden, die die Lendenwirbel stützen, über den weißen Hosen und türkisgrünen Hemden festgezurrt. Die Untermänner bringen sich in Stellung, kleinere Männer und Frauen schlüpfen unterstützend unter ihre Achseln, von vorne und hinten wird mit Brust und Rücken zusätzlich gestemmt. Die leichteren Castellers schlüpfen aus ihren Espardenyes, den katalanischen Leinenschuhen, und kraxeln über die Köpfe hinweg von Schulter zu Schulter. Die Abschlussfigur, der Pfeiler, entsteht, der durch die Menge vom Platz getragen wird. Noch einmal erklingt der "Toc de Castells", das Lied der Castells, um dann zu verstummen. Allerdings nicht für lange: in einer Woche gibt es die nächste Diada Castellera.

Eine lebendige Tradition

Feiertage: Der Bau von Menschentürmen, sogenannte Castells, ist in der nordspanischen Region Katalonien lebendige Tradition. 2010 hat die Unesco sie zum Weltkulturerbe erklärt. Castells werden bei vielen Patronatsfesten errichtet, vor allem in der Provinz Tarragona. Die Höhepunkte im Kalender der Castellers sind am 24. Juni zu Sant Joan in Valls, am 30. August zu Sant Felix in Vilafranca del Penedès, am 23. September zu Santa Tecla in Tarragona, an mehreren Sonntagen im Oktober und an Allerheiligen in Vilafranca del Penedès.

Adressen: Wer das Spektakel einmal miterleben möchte, bekommt hier Auskunft: Tourismusinformation Tarragona (auch Deutsch): www.tarragonaturisme.cat; Tourismusinformation Valls: www.valls.cat (Katalanisch); für den Kreis Alt Camp: www.altcamp.info (Englisch und Spanisch). Vilafranca de Penedès hat lediglich eine virtuelle Tourismusinformation: http://turisme.vilafranca.cat/ (Englisch, Spanisch, Französisch, Katalanisch).