In einer Verzweiflungstat kletterte ein 69-Jähriger bei einer Zwangsräumung in Tübingen vom Balkon und stürzte in die Tiefe. Zuvor schoss er auf einen Ordnungsamtsmitarbeiter und verfehlte ihn nur knapp. Die Nachbarn wussten von nichts.

Tübingen - Eine Rauchsäule steigt über dem verkohlten Dachstuhl in der Biesinger Straße in Tübingen auf, eigentlich eine ruhige Wohngegend in bester Halbhöhenlage. Doch an diesem Montagmorgen hat sich zwischen den stattlichen Einfamilienhäusern ein Drama abgespielt, das tödlich endete. Gegen 9 Uhr klingelte der Gerichtsvollzieher zusammen mit Mitarbeitern des Ordnungsamtes an dem Gebäude, das dem Land gehört und von der Universität genutzt wird. Sie wollten eine angekündigte Räumung gegen einen 69-Jährigen vollstrecken, der schon seit Jahren illegal in dem Haus wohnte.

 

Dazu kam es jedoch nicht. Die Mitarbeiter wurden Augenzeugen einer Verzweiflungstat. Aus den Fenstern des Hauses loderten plötzlich Flammen. Vom Balkon des Obergeschosses aus zielte der 69-Jährige mit einer Pistole auf die unerwünschten Besucher und drückte mindestens einmal ab. Eine Kugel streifte die Jacke eines Ordnungsamtsvertreters am Ärmel, verletzt wurde niemand.

Die Flammen im Rücken stürzt der 69-Jährige vom Balkon

„Für den Bewohner war es eine Ausnahmesituation“, sagt der Sprecher der Polizei. Der Mann habe – die Flammen im Rücken – versucht, sich über den Balkon in Sicherheit zu bringen. Dabei stürzte er mehrere Meter in die Tiefe und verletzte sich schwer, er starb trotz Reanimationsmaßnahmen. „Wir gehen davon aus, dass es ein Unfall war“, sagt der Polizeisprecher. Es muss aber geklärt werden, ob der Mann den Brand selbst gelegt hat.

Der 69-Jährige wohnte ohne Genehmigung in den Büroräumen, er war bis 2011 wissenschaftliche Hilfskraft in einer naturwissenschaftlichen Fakultät. Seit 2012 hatte die Universität mehrere Räumungsklagen angestrebt. Die Stadt hatte dem Mann gut ausgestattete Wohnungen angeboten – stets vergeblich. „Wir sind erschüttert vom tragischen Ausgang“, sagt Tübingens Erste Bürgermeisterin Christine Arbogast. „Es ist für unsere Mitarbeiter schwer auszuhalten, wenn ihre Hilfe nicht angenommen wird.“

In Tübingen werden jährlich rund 40 Zwangsräumungen anberaumt, etwa zehn werden umgesetzt. In vielen Fällen gelingt es, mit Hilfe der Sozialberatung die Räumung abzuwenden. Im Fall des 69-Jährigen gab es sogar ein medizinisches Gutachten wegen einer möglichen Suizidalität, es wurde vom Amtsgericht in Auftrag gegeben. Der Gutachter kam zu dem Schluss, dass „kein erkennbar erhöhtes Risiko für suizidale Handlungen“ vorliegt.

Die schockierten Nachbarn wissen nichts von einem Bewohner des Hauses. Sie stehen vor den Löschfahrzeugen und sehen zu, wie die Feuerwehr Glutnester im Dachstuhl bekämpft. Das einsturzgefährdete Gebäude ist weiträumig abgesperrt. „Ich habe nie mitbekommen, dass da jemand lebt“, sagt eine 19-Jährige.

Große Teile des Mundartarchivs aus dem Unglückshaus sind digitalisiert worden

Das Gebäude wurde von den Tübinger Empirischen Kulturwissenschaftlern als Außenstelle genutzt und beherbergte das Arno-Ruoff-Archiv mit seinen mehr als 2000 historischen Tonbandaufnahmen von Dialekten aus den 50er Jahren. In über 500 Orten in Baden-Württemberg wurden von Arno Ruoff und dem Tübinger Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger umfangreiche Materialien gesammelt. Die sind nicht ganz verloren. „Glücklicherweise haben wir in den vergangenen Monaten große Teile des Mundartarchivs digitalisiert“, sagt die Pressesprecherin der Universität Tübingen.