Tokio. - Mit dem Gewichtheben hat sie angefangen, weil der Sport mit Männlichkeit verbunden wird. Gewichtheben sollte sie männlicher machen, ihr helfen, sich männlicher zu fühlen – das war ihr sehnlichster Wunsch. Erfüllt wurde er nie. Geboren wurde sie zwar in einem männlichen Körper, aber mit dem Geschlecht Mann konnte sie sich nie identifizieren.
Heute ist Laurel Hubbard aus Neuseeland offiziell eine Frau. Sie ist transgender – ein Mensch, der sich dem Geschlecht, das ihm bei der Geburt anhand der äußeren Merkmale zugeordnet wurde, nicht zugehörig fühlt. 2012 ließ sie ihr Geschlecht anpassen. Und wenn sich an diesem Montag (12.50 Uhr MESZ) bei den Olympischen Spielen in Tokio die Frauen in der Gewichtsklasse über 87 Kilogramm im Gewichtheben messen, ist auch die Neuseeländerin unter ihnen. Es wird ein historischer Moment: Sie geht als erste Transathletin bei Olympia an den Start.
Laurel Hubbard spricht ungern über ihre Geschichte
Nur sehr ungern spricht Hubbard über sich und ihre Geschichte. „Ich bin, wer ich bin. Ich bin nicht hier, um die Welt zu ändern. Ich möchte einfach nur ich sein. Und machen, was ich mache“, sagte die 43-Jährige Ende 2017 in einem ihrer seltenen Interviews. Transathleten, die sich in der Öffentlichkeit äußern, gibt es kaum. Zu groß ist die Angst vor negativen Reaktionen – oder davor, dass die sportliche Karriere womöglich gefährdet werden könnte.
Darf jemand, der in einem männlichen Körper geboren wurde, an Frauenwettkämpfen teilnehmen? Wie sehr hat jemand wie Hubbard, die im Zweikampf aus Reißen und Stoßen im Superschwergewicht Chancen auf eine Medaille hat, noch die körperlichen Vorteile des männlichen Geschlechts in sich? Fragen, die sich in der Fairness-Debatte um Transathletinnen immer wieder stellen – und die Hubbard seit ihrem Einstieg in Frauenwettkämpfe im Jahr 2017 begleiten.
Im Vorfeld des olympischen Wettkampfs der Gewichtheberinnen gab es eine Petition, die das Internationalen Olympischen Komitee (IOC) aufforderte, Hubbard nicht zuzulassen. Und einmal mehr kritische Bemerkungen von Konkurrentinnen. „Für die Sportler fühlt sich das Ganze wie ein schlechter Witz an. Jeder, der Gewichtheben auf hohem Niveau trainiert hat, weiß ganz genau, dass diese besondere Situation für den Sport und die Athleten unfair ist“, sagte die Belgierin Anna Van Bellinghen dem Portal „insidethegames.com“.
Vom IOC gibt es klare Vorgaben
Einst nahm Hubbard an Männerwettkämpfen teil, bis 2001 – mit einer Zweikampf-Bestleistung von 300 Kilogramm im Jahr 1998. Jetzt schafft sie immer noch annähernd genauso viel (285 Kilogramm). 2017 holte sie bei den Weltmeisterschaften im kaliforschen Anaheim die Silbermedaille und 2019 bei den Pazifikspielen in Apia (Samoa) den Titel. Immer kritisch beäugt – die Debatte um die Neuseeländerin erinnert ein wenig an die Kontroverse um die Südafrikanerin Caster Semenya, Olympiasiegerin und Weltmeisterin im 800-Meter-Lauf, die intersexuelle Anlagen hat.
Vom IOC gibt es klare Vorgaben, wann Transfrauen sich in Wettkämpfen mit anderen Frauen messen dürfen: Zum Beispiel muss der Identitätswechsel mindestens vier Jahre zurückliegen. Und der Testosteron-Wert im Blut muss ein Jahr vor einem Wettkampf unter 10 Nanomol pro Liter liegen. „Laurel Hubbard hat diese IOC-Vorgaben erfüllt. Dann kann und muss man von einem fairen Wettkampf sprechen“, sagt Birgit Braumüller, die sich an der Deutschen Sporthochschule Köln auf die Gebiete Soziologie und Genderforschung spezialisiert hat.
Die Wissenschaftlerin versteht nicht, warum über Fairness nur dann diskutiert wird, wenn es um Transfrauen im Sport geht: „Die Debatte wird relativ einseitig geführt. Dabei gibt es viele Sportler:innen mit unterschiedlichen psychischen, körperlichen und finanziellen Voraussetzungen, dann müsste man auch darüber sprechen.“ Dass dann das komplette Sportsystem – die Einteilung in Männer-und Frauenwettkämpfe – in Frage gestellt würde, ist ihr bewusst.
Fabienne Peter kann sich gut in Laurel Hubbard hineinversetzen
Das IOC hat den Weg für Transgender-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer schon vor Jahren geebnet, seit 2004 ist ein Start theoretisch möglich. Neue Richtlinien für den Umgang mit ihnen sind angekündigt, an denen sich dann auch die Einzelverbände orientieren sollen. Der Leichtathletik-Weltverband etwa hat bislang einen deutlich tieferen Nanomol-Wert (unter 5 Nanomol pro Liter) angesetzt. „Laurel Hubbard ist eine Frau und hat sich unter den Bedingungen des IWF (Weltverband der Gewichtheber, Anm. d. Red) qualifiziert. Wir müssen ihren Mut und ihre Hartnäckigkeit würdigen, dass sie tatsächlich an den Wettkämpfen teilgenommen und sich für die Spiele qualifiziert hat“, sagte der IOC-Chefarzt Richard Budgett in Tokio.
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Fabienne Peter kann sich gut in Laurel Hubbard hineinversetzen. Die ambitionierte Schweizer Triathletin, die auch als Eishockeyspielerin für den Drittligisten EHC Basel aufläuft, wurde ebenfalls in einem männlichen Körper geboren und geht heute bei Frauenwettkämpfen an den Start – und spricht offen über ihre Situation.
Sie erzählt beispielsweise von einem Rennen in ihrer Karriere, bei dem sie beste Chancen hatte, am Ende unter den ersten drei Athletinnen zu landen. Doch irgendwann kam der Moment, in dem sie langsamer wurde. Weil ihr Gedanken in den Kopf schossen: „Was ist, wenn ich den dritten Platz schaffe und als Transathletin auf dem Podest lande? Beginnen da nicht wieder die Diskussionen, ob das fair ist?“ Und sie ergänzt: „Diese Gedanken blockieren mich manchmal im Rennen.“ Letztlich wurde sie Vierte – die Angst vor möglichen negativen Reaktionen war stärker als ihr sportlicher Ehrgeiz.
Hubbard geht am Montag an den Start
Transathletinnen wird beispielsweise häufig unterstellt wird, sie würden eine Geschlechtsangleichung nur durchführen, um dann bei den Wettkämpfen des anderen Geschlechts noch einmal durchzustarten. „Aber ich bin nicht per se erfolgreicher – nur weil ich trans bin“, betont Fabienne Peter. Nach ihrer Hormontherapie und dem Wegfall des Testosterons musste sie erst lernen, dass viele Dinge, die vorher selbstverständlich waren, auf einmal ein Problem darstellten. „Ich habe das extrem stark gespürt, weil in manchen Situationen plötzlich die Kraft fehlte.“
Laurel Hubbard wird an diesem Montag all ihre Kraft brauchen. Für den Wettkampf – und für alles, was drumherum auf sie einprasseln wird. „Ich glaube nicht, dass ich mutiger als andere bin“, sagte die Neuseeländerin, die sich kurz vor ihrem Start in Tokio an diesem Montag beim IOC für dessen Engagement bedankte. „Ich bin nur ich.“