Die Mutter und Trauerbegleiterin Hanne Shah betreut seit Jahren Eltern, die ihr Kind durch Unfall, Suizid oder ein anderes plötzliches Ereignis verloren haben. Nun hat sie ein Buch über die Hilfslosigkeit von Betroffenen und Helfern geschrieben.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Gerlingen - Hanne Shah kennt das Phänomen: die Menschen machen einen Bogen um Eltern, deren Kind gestorben ist. Was soll man da auch sagen? Was darf man überhaupt fragen? Und reißt man durch seine Fragen gar Wunden neu auf? Die Unsicherheit ist groß – und manchmal sind es leider auch die Grenzüberschreitungen und Anmaßungen. Es trifft Eltern im Innersten, wenn etwa ein Rektor die Todesanzeige für einen verstorbenen Schüler den Eltern gegenüber mit der Begründung ablehnt: Sie wissen doch, dass wir sparen müssen. Hanne Shah kennt viele solcher Begebenheiten, die auf die Trauer noch einen zusätzlichen – und, wie sie findet, völlig überflüssigen – Schmerz setzen.

 

Richtig und falsch gibt es beim Trauern nicht

Doch zugleich stehen trauernde Eltern unter der Beobachtung ihres Umfeldes, das zwar verlegen schweigt, aber dennoch urteilt, „wie sich Menschen in ihrer Trauer verhalten“, sagt Shah. „Von diesem Schubladendenken, was beim Trauern richtig und was falsch ist, müssen wir uns frei machen“, sagt die Gerlinger Hausfrau, Mutter und langjährige Trauerbegleiterin.

Das Ehrenamt ist ihr Beruf geworden, sie ist Vorsitzende des baden-württembergischen Arbeitskreises trauernder Eltern und Geschwister (Arteg). Sie bietet ihre Hilfe an, wenn Eltern „das Schlimmste geschehen ist, was passieren kann“ – der plötzliche Tod ohne Ankündigung und ohne Möglichkeit zum Abschied. Darauf ist niemand vorbereitet.

Über die Hilflosigkeit der Betroffenen und der Helfer, die als Sanitäter, Ärzte, Unfallbeteiligte oder auch Freunde Teil dieser Katastrophe sind, hat Hanne Shah nun zusammen mit dem Psychologen Thomas Weber ein Buch geschrieben. „Trauer und Trauma“ heißt es – und es versucht zu erklären, „warum es so schwer ist, die jeweils andere Seite zu verstehen“.

Amoklauf von Winnenden führt Autoren zusammen

Es wirbt für Respekt und die Begegnung auf Augenhöhe zwischen Trauernden und ihren professionellen Begleitern und den Laien-Helfern. Shahs Mitautor Thomas Weber leitet in Köln ein Traumazentrum und ist seit Jahren in der psychosozialen Nachsorge von Opfern von Gewalt und Großschadensereignissen – so die Verwaltungssprache – tätig.

Der Amoklauf von Winnenden führte die beiden 2009 zusammen. Danach, das schreiben die beiden in ihrer Einleitung, war ihnen klar: in erster Linie geht es um Hilflosigkeit – um die der Helfer und um die der Betroffenen. „Die Hilflosigkeit auszuhalten, das ist manchmal die entscheidende und oft auch einzige Hilfe, die wir geben können.“ Das klingt einfach, ist aber unendlich schwer. Es ist die Kernbotschaft der beiden, die sich nicht nur aus den Erfahrungen von Winnenden speist.

„Manchmal,“ sagt Hanne Shah, „kann diese Hilfe ein Essen sein, das man vorbeibringt oder ein Behördengang, den man übernimmt.“ Das Buch ist so auch ein Plädoyer für die richtigen Gesten, weniger für die großen Worte. Die Begleitung durch eine Freundin kann den Gang in den Supermarkt einfacher machen, wenn eine trauernde Mutter Angst vor den neugierigen Fragen ihrer Umwelt hat. „Dann kann die Freundin antworten und für die Mutter sprechen“, erklärt sie. Trauer, das weiß die 53-Jährige, ist so individuell wie die Menschen selbst. Ein Patentrezept, wie man sich verhalten soll, hat Shah deshalb natürlich nicht. Aber eines weiß sie ganz genau: Wer Trauernden mit Respekt begegnet, kann wenig falsch machen. Wer mit dieser Haltung auftritt, der kann aus Unsicherheit auch mal ein falsches Wort sagen. Das versendet sich dann und ist verzeihlich.

Shahs Sohn stirbt während eines Schulausflugs

Shah hat sich den Weg ins Expertentum nicht ausgesucht, aber sie hat ihn beherzt in Angriff genommen. Vor 13 Jahren hat sie selbst ihren ältesten Sohn, der damals 13 Jahre alt war, verloren. Er starb auf einem mehrtägigen Schulausflug durch einen Unfall und hinterließ zwei Geschwister, ein Pflegekind und ein Elternpaar. Shah kann daher sehr genau nachvollziehen, wie Eltern nach einem solchen Schicksalsschlag ihre Welt und ihre Familie neu zusammensetzen müssen.

Nach dem Tod ihres Sohnes merkte sie: es gibt keine Handreichung für Schulen und Lehrer, mit dem Tod eines Schülers richtig umzugehen. 2004 verfasste sie mit finanzieller Unterstützung des baden-württembergischen Kultusministeriums eine Broschüre, die erste ihrer Art, die verteilt wird. Das Ministerium lud sie in der Folge immer wieder zu Schulungen und Weiterbildungen für Lehrer und Psychologen im Bereich Trauer und Trauma in der Schule an. Shah berät zudem Lehrer bei Kriseneinsätzen in Schulen.

Aus der nun 13-jährigen Begleitung trauernder Eltern hat sie gelernt, wie nachhaltig Begegnungen zwischen Trauernden und ihrer Umwelt wirken und wie sie sich in der Erinnerung festsetzen. „Das merkt man sich genau“, sagt sie. „Der Tod des eigenen Kindes ist ein ganz schlimmes Erlebnis, welches das ganze weitere Leben prägt. Trauernde haben ein feines Gespür, wer ihnen Gutes getan hat. Und wer nicht.“ Shah geht es darum, zusätzliche Verletzungen zu vermeiden. Denn auch die wirken fort wie der Tod selbst.