Mario Colletto ist der Speyrer Dombaumeister. Er läuft gegen halb fünf über den Domplatz und wundert sich, dass zu diesem Zeitpunkt so wenige Menschen hier stehen. Er mutmaßt, dass die vielen Straßensperren die Menschen abhalten. Auf der Videoleinwand im Domgarten ist das Rheinufer zu sehen. Alle warten auf das Eintreffen des Sarges. Er wurde von Straßburg aus mit dem Hubschrauber in Kohls Heimatstadt Ludwigshafen gebracht, wo sich ein Trauerzug anschloss. Die letzte Wegstrecke nach Speyer wurde der Sarg mit der MS Mainz auf dem Rhein transportiert. Auf diesem Schiff hatte Helmut Kohl viele Staatsgäste empfangen.

 

Georg Poh (60) und sein Sohn Jeremy (19) aus Neustadt an der Weinstraße gehören zu den Wartenden, die sich schon früh hinter dem Absperrgitter einen Platz gesichert haben. „Ich habe Helmut Kohl selbst gar nicht als Kanzler erlebt“, sagt der junge Mann. Dennoch will er sich ebenso wie sein Vater wegen Kohls Lebensleistung von ihm verabschieden. „Und um ein bisschen was sehen“, wie er sagt. Am Ende zählt die Polizei ein paar Hundert Besucher, nicht die erwarteten Zehntausend. Für das Eintreffen der Ehrengäste, viele von ihnen sind schon in Straßburg dabei gewesen, gilt die höchste Sicherheitsstufe. Als einer der ersten trifft Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ein. Kanzlerin Angela Merkel findet jenseits des Trauerrituals Zeit, an der Absperrung Hände zu schütteln und sich fotografieren zu lassen. Die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer hakt sich bei Andreas Voßkuhle, dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, unter. Gleich beginnt im Dom das Requiem.

Kohls Söhne kommen nicht zur Trauerfeier

„Ut unum sint“ – dieser Spruch aus dem Johannesevangelium prangt über dem Hauptportal des Speyerer Doms. Das ist im besten Sinne ein frommer Wunsch: „Dass sie eins sein mögen“, lautet der Satz auf Deutsch. Helmut Kohl hatte dies immer als eine Mahnung an die Europäer verstanden: als Appell, den Zusammenhalt zu pflegen. Solche geschichtspolitischen Bezüge hat er stets gesucht. Er war ein Mann, der in Symbolen dachte. Auch die Trauergäste begegnen solchen Chiffren auf Schritt und Tritt. Manche, die an diesem Samstag unter der lateinischen Inschrift hindurchschreiten, könnten sich von dem Wort Jesu ganz persönlich angesprochen fühlen. Kohls Ableben offenbarte, wie sehr ihm die Einigung im persönlichen Umfeld missglückt war – eine Tragödie hinter der Trauerfeier. Die Söhne Walter und Peter nehmen am Requiem nicht teil. Der Bischof von Speyer, Karl-Heinz Wiesemann, Hausherr im Dom, lässt diesen Aspekt in seiner Predigt nicht unerwähnt. Beim letzten Treffen mit Kohl vor Weihnachten 2016 habe er den Eindruck gewonnen: „Er wusste auch um seine Ecken und Kanten, darum dass er vieles erreicht hatte, aber manches auch zu kurz gekommen war“, so der Kirchenmann. „Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die nur Gott lösen, erlösen kann.“

Der Dom zu Speyer ist kein willkürlicher Ort, um Abschied von Helmut Kohl zu nehmen. Für Kohl selbst war der fast 1000 Jahre alte Bau eine Art Heimstatt. In seinen Tagebüchern nennt er den Dom seine „Hauskirche“. Die „architektonische Schlichtheit“ haben ihm imponiert, sicher auch die schieren Dimensionen des Gotteshauses, die Widerständigkeit über Jahrhunderte hinweg, die archaische Würde dieses Ortes, der Symbolcharakter als steinernes Sinnbild der Versöhnung und der Weltläufigkeit. Die Salierkaiser, die den Dom erbauen ließen, fügen sich nicht in nationalstaatliche Schablonen. Ihr Horizont war europäisch. Der Dom „widersteht jedem Versuch rein nationaler Vereinnahmung aus sich heraus“, sagt Bischof Wiesemann in der Predigt. Eine „Vision der Einheit“ durchwehe diesen Kirchenraum. Hier sieht er Bezüge zur Gedankenwelt Kohls: Der Altkanzler stehe für eine „Verschmelzung tiefer Heimatverwurzelung mit dem großen Atem der Geschichte, mit weiten Bögen geistiger, kultureller und religiöser Zusammengehörigkeit“.