Der Verein Refugio, der Traumatherapie für Geflüchtete bietet, feiert sein 20-Jahr-Jubiläum. Noch immer wird die Arbeit, die dort geleistet wird, nicht vom deutschen Regelsystem übernommen.
„In meinem Kopf ist Mariupol“, sagt der Mann. Das meint nicht, dass die ukrainische Stadt seine Heimat ist und er an sie denkt. Es meint nicht einmal, dass er je dort gewesen ist. Es meint vielmehr, dass er Bilder der zerbombten Stadt gesehen hat – und sagen will: „So zerstört sieht es in meinem Kopf aus.“ Es ist seine Art und Weise zu beschreiben, dass er unter einem Trauma leidet – das er in einem anderen Krieg, in einem anderen Land erlitten hat.
Der Krieg in der Ukraine triggert derzeit viele Geflüchtete und reißt durch die Bilderflut alte Wunden wieder auf. Diese Erfahrung machen derzeit die Mitarbeitenden des Psychosozialen Zentrums für traumatisierte Flüchtlinge Refugio. Seit Krieg in der Ukraine ist, melden sich bei ihnen andere Geflüchtete – etwa Tschetschenen und Bosnier – und sagen: „Ich bin wieder mitten im Krieg.“ Erika Fischer, ehrenamtliche, aber professionelle Therapeutin bei Refugio, weiß von einer bosnischen Frau, die sich seither nicht mehr aus dem Haus traut. Klienten aus der Ukraine hat Refugio bisher noch nicht. „Wenn, dann kommen die erst später“, sagt Fischer.
Im Jahr 2021 wurden 134 Klienten betreut
Die Therapeutin hat bereits für für den Vorläufer von Refugio gearbeitet, einer Initiative, die vorrangig eine Anlaufstelle für Geflüchtete war und neben Sprachmittlung unter anderem auch therapeutische Hilfe anbot. Vor 20 Jahren, im Jahr 2002, wurde der Verein Refugio gegründet und wuchs rasch. Inzwischen gibt es zwei Beratungsstellen – neben der in Bad Cannstatt noch eine weitere in Tübingen. In beiden Niederlassungen gibt es vier Therapeuten, die hauptamtlich angestellt sind, in Stuttgart kommen noch die Geschäftsführerin Ute Hausmann sowie die fachliche Leiterin Ulrike Schneck und die Verwaltung hinzu.
Dennoch würde die Einrichtung, die finanziell von Stadt und Land unterstützt wird, nicht ohne ehrenamtliche Mitarbeiter auskommen: In Stuttgart gibt es sechs ehrenamtliche, aber professionelle Therapeutinnen, die 2021 insgesamt 134 Klienten betreut haben. Dazu kommen Sprachmittler für 17 Sprachen und 24 Alltagsbegleiterinnen. Denn Refugio bietet nicht nur Therapie, sondern bündelt verschiedene Leistungen. So bieten die Alltagsbegleiter etwa auch Hilfe bei Behördengängen. Insgesamt hatte der Verein 2021 eine Million Euro zur Verfügung.
Mitarbeiter von Refugio haben eine spezielle Traumaausbildung
Doch weshalb bedarf es überhaupt einer solchen Beratungsstelle, warum reicht unser Gesundheitswesen nicht aus? Laut Ute Hausmann gibt es zwei Grundprobleme: „Zum einen schließt das Asylbewerberleistungsgesetz Geflüchtete vom Zugang zum therapeutischen Angebot aus, da Traumata nicht als dringend behandelbar angesehen werden.“ Zudem stehe oft die Sprachbarriere im Weg, da Sprachmittlung im Regelsystem nicht finanziert werde.
Tatsächlich wissen viele Geflüchtete selbst nicht, was mit ihnen los ist. Sie leiden unter Schlafproblemen, Albträumen, Wiedererlebniszuständen, Konzentrationsschwierigkeit, Depressionen oder haben ein Suchtproblem. Die Mitarbeiter von Refugio haben alle eine spezielle Traumaausbildung und können diese Symptome erkennen – davor sind sie aber auf Menschen angewiesen, die die Geflüchteten an sie vermitteln. „Das sind oft Anwälte oder Mitarbeiter in den Flüchtlingsunterkünften“, so Hausmann.
Viele können durch die fehlende Konzentration kein Deutsch lernen
Dringend behandelbar ist ein Trauma indes durchaus, denn es hindert die Betroffenen oft daran, sich zu organisieren, in Deutschland anzukommen und den Alltag zu bewältigen. „Viele sind durch den Schlafmangel und die Konzentrationsschwierigkeiten nicht in der Lage, Deutsch zu lernen“, berichtet Ulrike Schneck. Deshalb gelte es nach einem ausführlichen Abklärungsgespräch meist erst einmal, dem Klienten konkrete Nothilfemaßnahmen und Selbstberuhigungsstrategien nahezubringen.
„Die Traumatisierten – die meisten kommen aus Afghanistan, der Türkei, dem Irak, Nigeria und dem Iran – haben Kriegs- und Fluchterfahrungen gemacht oder Folter erlebt, sie sind vergewaltigt worden oder mussten mit ansehen, wie ihre Liebsten getötet wurden“, sagt Schneck. „Damit müssen wir umgehen, aber wir können das Trauma meist gar nicht gleich mit den Betroffenen aufarbeiten.“ Vielmehr versuche man, Wege zu finden, „wie der Traumatisierte das Erlebte in eine Kiste packen kann, auch wenn der Deckel immer wieder aufgeht“, sagt Ulrike Schneck. Grundsätzlich aber sei bei Refugio sowohl eine Krisenintervention, eine Kurz- oder Langzeittherapie als auch eine Nachsorge möglich.
Letztlich ist es den Mitarbeitern von Refugio vor allem wichtig, das Versprechen einzulösen, das sie schon im Namen tragen, und ein Zufluchtsort für Geflüchtete zu sein: „Zu mir kam lange Zeit ein Tschetschene. Er wartete immer auf einem alten Sofa, bis er reingerufen wurde. Man musste ihn jedes Mal wecken. Er sagte: ‚Das ist der einzige Ort, an dem ich ruhig schlafen kann’. Er hatte Angst vor Abschiebung“, sagt Erika Fischer.
20-Jahr-Jubiläum
Tag der offenen Tür
Am 14. Juli von 16 bis 19 Uhr öffnet Refugio, Waiblinger Straße 12 in Bad Cannstatt, seine Türen und gibt Einblicke in die Arbeit des Vereins, etwa in die kulturadaptierte therapeutische Arbeit, Methoden in der traumaspezifischen Beratung, Sprachmittlung im Kontext von Beratung und Therapie oder zum Ehrenamt. Um 17 Uhr wird die Kunstausstellung „Spuren“ mit Werken von Jo Winter eröffnet.