Traumatisierte Flüchtlinge müssen mangels Kapazitäten rund neun Monate auf einen Therapieplatz warten. Die Folgen sind in ersten Unterkünften bereits spürbar.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Die psychologischen Beratungsstellen für Flüchtlinge, PBV Stuttgart und Refugio Stuttgart, arbeiten am am Anschlag. Denn die Zahl an traumatisierten Flüchtlingen ist so groß geworden, dass die Wartezeit auf einen Therapieplatz im Vergleich zum Vorjahr massiv gestiegen ist: von drei (PBV) beziehungsweise vier Monate (Refugio) auf nun rund neun Monate. „Es ist eine Katastrophe. Wir laden jetzt diejenigen ein, die sich im Januar gemeldet haben“, berichtet die Geschäftsführerin von Refugio, Doris Trabelsi. Bei PBV Stuttgart hat sich die Lage seit April zugespitzt. „Wir kommen nicht mehr hinterher. Wir sind kurz vor dem Zusammenbruch“, sagt der PBV-Leiter Dieter David.

 

Die sechs Psychologen bei PBV, von denen zwei in Vollzeit arbeiten, betreuen rund 400 Flüchtlinge, das seien etwa 100 mehr als vor einem Jahr, so David. Unterstützt werden sie von vier Ärzten. Bei Refugio haben sich in diesem Jahr bisher 182 Flüchtlinge angemeldet – 30 mehr als im Vorjahreszeitraum und 26 mehr als im kompletten Jahr 2012. Die Flüchtlinge kämen aus einem Umkreis von 100 Kilometern zu ihnen, sagt Doris Trabelsi.

Chronische psychische Erkrankung droht

Die Refugio-Geschäftsführerin und der PBV-Leiter schätzen die lange Wartezeit als „sehr problematisch“ ein. „Traumatisierte Patienten haben ihren eigenen Tod überlebt, das ist existenziell“, erklärt der Psychologe und Traumatherapeut David. Eigentlich hätten Traumapatienten eine gute Perspektive, aber nur, wenn die Therapie zeitnah erfolge. Gelinge dies nicht, drohten sie chronisch psychisch krank zu werden. Landeten sie in den Psychiatrien, würden sie meist rein medikamentös behandelt.

Dort fehlten Dolmetscher. Bei PBV, aber auch bei Refugio werden die Therapeuten von Dolmetschern unterstützt. Viele Flüchtlinge, um die sich die Psychologen kümmern, sind nicht nur von Kriegserlebnissen, sondern auch von der Flucht selbst traumatisiert. Ein Patient von PBV zum Beispiel hat gesehen, wie auf dem überladenen Schiff kleine Kinder erstickt sind – diese Bilder bekommt er nicht aus dem Kopf. Ein anderer gibt sich die Schuld daran, dass ein Junge ertrunken ist: Der Syrer hatte das Kind auf dem stark schaukelnden Schiff festgehalten, doch es wollte zu seiner Mutter – als der Mann losließ, stürzte der Junge ins Wasser. Der einst kräftige Mann ist auf 45 Kilogramm abgemagert. Er hat vor Kummer aufgehört zu essen. „So eine Form der Traumatisierung hat es früher nicht gegeben“, sagt Dieter David.

Gewalterfahrungen sind extremer geworden

Die Schilderungen der Menschen hätten quasi eine neue Stufe erreicht. Wenn immer öfter Opfer von „sinnloser Gewalt“ vor ihnen sitzen, geht das auch an den Therapeuten nicht spurlos vorbei. Bei PBV wurde bereits eine Sondersupervisionssitzung angesetzt. „Wir müssen uns selbst herunterholen“, erzählt der Psychologe.

Dieter David und Doris Trabelsi sind froh, dass das Thema inzwischen in der Politik angekommen ist. Wie berichtet hat die Gemeinderatsfraktion der Grünen einen Antrag zum Thema Wartelisten eingebracht. In diesem wird die Verwaltung unter anderem dazu aufgefordert, aufzuzeigen, wie hoch der Bedarf an psychosozialer und psychologischer Beratung in den einzelnen Flüchtlingsunterkünften in Stuttgart ist und wie eine Mangelversorgung behoben werden könnte.

Psychologische Feuerwehr im Flüchtlingsheim

Tatsächlich scheint sich die mangelnde psychologische Versorgung bereits auf das Klima in einigen Unterkünften auszuwirken. Seit einem Vierteljahr gehen bei PBV immer wieder Anrufe von Sozialarbeitern ein, die um Hilfe bitten. Dieter David ist in den vergangenen drei Monaten vier Mal als „psychologische Feuerwehr“ in Flüchtlingsunterkünften gewesen und hat dort Gespräche geführt.

Er führt die Situation der betroffenen psychisch kranken Flüchtlinge vor Augen: Sie leben mit vielen Menschen unter einem Dach, in der Regel zu dritt auf engstem Raum in einem Zimmer, von Angststörungen geplagt. „Sie sind verhaltensauffällig, ängstlich, reden im Schlaf, das alles führt dazu, dass die Gesunden beginnen, sie zu schneiden“, so der Psychologe.

Sozialarbeiter können das nicht auffangen

Die Sozialarbeiter hätten gar nicht die Kapazität, so etwas aufzufangen, meint auch Doris Trabelsi. Das bestätigt eine Sozialarbeiterin aus einem Stuttgarter Flüchtlingsheim. Regelmäßig wollten ihr Bewohner von ihrer Flucht erzählen. „Ich blocke dann ab, weil ich dafür nicht ausgebildet bin und auch nicht die Zeit habe“, sagt die Frau. Schließlich sei sie für 68 Bewohner zuständig. „In der Flüchtlingsarbeit ist die mangelnde psychologische Betreuung ein Riesenthema“, meint auch Fritz Weller, der für Migration zuständige Bereichsleiter bei der Caritas. Er bezeichnet die Situation als „unhaltbar“.