Der Traumataloge Jan Ilhan Kizilhan hat über 1000 jesidische Frauen und Kinder betreut, die vom IS verschleppt, vergewaltigt und verkauft wurden. In einem „Sonderkontingent“ haben die Jesiden im Land eine neue Heimat gefunden. Nun läuft das Programm aus.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Stuttgart - Jan Ilhan Kizilhan hat das vom Land Baden-Württemberg Ende 2014 aufgelegte „Sonderkontingent für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak“ betreut. Im Interview spricht der Traumatologe über die Zukunft der Jesidinnen in Deutschland und über den Zustand des Islam.

 
Herr Kizilhan, was hat Sie an den jesidischen Frauen, die Sie untersucht haben, am meisten beeindruckt?
Diese unglaubliche Kraft. Frauen, die aus der Gefangenschaft des IS kommen, haben eigentlich keinen Grund mehr, zu leben. Sie wurden vergewaltigt, zum Teil zwölf mal verkauft. Ich habe mit Müttern gesprochen, die gesehen haben, wie ihr zweijähriges Kind hingerichtet wurde. Diese Frauen wollen aber kämpfen und leben!
Wie kann es sein, dass eine Frau im 21. Jahrhundert zwölf mal verkauft wurde?
Als der IS seine Angriffe im Irak gestartet hat, haben die Terroristen jesidische, schiitische und christliche Frauen entführt. Die Terroristen haben nach dem Motto gehandelt: ,Das sind Ungläubige, die versklaven oder töten wir.’ Dann ist ein Markt entstanden. So wurden Frauen auf einmal als Sklavinnen verkauft, wie vor 1000 Jahren.
Wer hat diese Frauen gekauft?
Das sind Männer aus Kuwait, aus Katar, aus Saudi-Arabien, aus Ägypten, und zwar nicht nur IS-Sympathisanten. Das jüngste Mädchen, das ich untersucht habe, war acht Jahre alt. Sie war bereits zehnmal verkauft worden.
Das Sonderprogramm der Landesregierung läuft nun aus. Wie geht es danach weiter?
Ich gehe davon aus, dass die Frauen und Kinder eine Aufenthaltsgenehmigung bekommen, falls sie eine wollen. Ich hoffe, die Landesregierung wird weiterhin für medizinisch-psychologische Untersuchungen sorgen. Die Gefahr, keinen Aufenthalt oder Betreuung zu haben, kann die Frauen destabilisieren – was keiner von uns möchte.
Wie nehmen die Frauen ihre neue Heimat wahr?
Als die Frauen anfangs in Deutschland waren, waren sie überrascht, dass hier so viele Muslime sind. Sie dachten wahrscheinlich, dass es hier nur blonde Deutsche gibt.
Und wie verarbeiten die Jesidinnen ihre schrecklichen Erfahrungen?
Bei allem Schrecken haben sie einen ,Vorteil’: Bereits ihre Vorfahren mussten sich mit Traumata auseinandersetzen. Die Jesiden sagen, dass das aktuell der 74. Genozid ist, den sie erlebt haben. Man geht davon aus, dass in den vergangenen 800 Jahren 1,8 Millionen Jesiden zum Islam zwangskonvertiert wurden, 1,2 Millionen wurden ermordet. Durch ihre Vorfahren wissen sie, dass solche Massaker passiert sind. Sie haben dafür auch einen eigenen Begriff, Ferman, der ist identisch mit Genozid oder Holocaust. Sie waren kollektiv vorbereitet darauf, dass so etwas passieren kann, deshalb haben sie andere Widerstandskräfte.
Die Resilienz der Frauen gründet also auf ihrer schrecklichen Kollektiverfahrung?
Es relativiert das Ganze zumindest. Durch ihre Vorfahren haben sie gelernt, an dem Trauma zu wachsen.