Die Wiederannäherung der Türkei an ausgewählte europäische Staaten kann nicht als Zeichen eines neuen Europa-Strebens gedeutet werden.

Istanbul - Mit einem Doppelbesuch von Staatspräsident und Außenminister bei den beiden wichtigsten Staaten der EU hat die Türkei versucht, ihre Beziehungen zu Europa nach langen Monaten des Streits auf eine neue Grundlage zu stellen. Die Reisen von Präsident Erdogan nach Paris und Außenminister Cavusoglu nach Deutschland stehen für Bemühungen der Türkei um mehr Nähe zu Europa nach einer langen Zeit der Entfremdung. Die Wiederannäherung sollte aber nicht als Zeichen eines neuen Europa-Strebens in Ankara gedeutet werden. Es geht Erdogan um innenpolitische Vorteile, nicht um europäische Werte.

 

Gut 15 Jahre nach seinem Machtantritt in der Türkei will der 63-jährige Erdogan die Weichen für eine Zukunft stellen, in der er selbst und nach seinem Ausscheiden ein anderer islamisch-konservativer Politiker über die absolute Macht im Land verfügt. Der Umbau der Türkei in eine Präsidialrepublik soll bei der Präsidentenwahl im kommenden Jahr vollendet werden. Diesem Ziel wird alles andere untergeordnet, auch die Außenpolitik, die jetzt „transaktional“ geführt wird, also nach dem Prinzip von Leistung und konkreter und unmittelbarer Gegenleistung. Das hat weitreichende Folgen für das Verhältnis zu Europa, in dem es bisher prinzipiell um die Annäherung der Türkei an EU-Werte ging.

Erdogan sieht sich von inneren und äußeren Feinden umringt

Seinen öffentlichen Äußerungen nach zu urteilen, hat Erdogan kein Interesse mehr an einer EU-Mitgliedschaft seines Landes. Dass der Druck auf Opposition und Medien mit der Inhaftierung führender Politiker und Journalisten den Normen Europas widerspricht, ist für ihn unerheblich. Er sieht sich von inneren und äußeren Feinden umringt, die er zum Wohle des Landes bekämpfen muss. Die Wiederannäherung an Europa dient in dieser Situation dazu, eine Isolierung der Türkei im Westen zu verhindern. Zudem ist Erdogan wegen des nahen Wahlkampfes dringend an guten Wirtschaftsbeziehungen zu Deutschland, Frankreich und anderen EU-Staaten interessiert. Deshalb besuchten Erdogan und Cavusoglu am Wochenende die wirtschaftsstärksten Mitglieder der EU, nicht aber die EU-Zentrale selbst. „Transaktional“ ist auch die Haltung der Türkei bei Fällen wie dem des inhaftierten deutschtürkischen Journalisten Yücel. Ein Austausch gegen Gülen-Anhänger in Deutschland kommt für die Bundesrepublik zwar nicht infrage, doch in anderen Bereichen ist ein Geben und Nehmen offenbar möglich.

Sollten sich die Regierungen beider Länder in den nächsten Monaten auf – wie auch immer geartete – Kriterien für eine Haftentlassung von Yücel und anderer Bundesbürger einigen, wäre das der Beweis dafür, dass eine „transaktionale“ Außenpolitik durchaus Ergebnisse bringen kann. Berlin sollte aber nicht vergessen, dass aus Sicht der Erdogan-Regierung auch die Rückkehr zu einer harten Linie sinnvoll erscheinen kann, wenn sie sich davon einen Nutzen verspricht. Die neue Ära der deutsch-türkischen Beziehungen wird von knallharter Interessenpolitik geprägt – nicht von europäischen Werten.