Der gesundheits- und fitnessfixierte Zeitgeist hat der Schwarzwälder Kirschtorte und der Sachertorte zuletzt eine Imagekrise beschert. Doch jetzt kommen die Klassiker zurück. Omas Torte ist wieder hip.

Hamburg - Sie ist wie die üppige Schönheit auf jeder Party: ein bisschen zu viel Schminke, das Kleid ein wenig zu opulent, im Benehmen ein wenig zu auffällig. Aber was wäre die Feier ohne ihren Charme, ihre Heiterkeit und natürlich den Klatsch! Ein Fest ohne Torte ist wie Weihnachten ohne Geschenke – undenkbar!

 

Dabei war die Torte fast schon tot. Oder besser: totgesagt. Ausgerechnet Udo Jürgens und sein Hit „Aber bitte mit Sahne“ machten die zuckersüßen Backwerke 1978 zu den Symbolen einer krisenhaft-verfetteten Bürgerlichkeit. Schwarzwälder Kirsch, Sachertorte und Co. standen plötzlich auf dem Index. Herangewachsen ist eine Generation, für die Torte zum Inbegriff spießiger Sonntagnachmittage auf Omas Sofa wurde. Einzig zu Familienfeiern wie Hochzeit oder Taufe waren die geschichteten Teigkompositionen mit ihren opulenten Verzierungen noch geduldet.

Bei „Herrn Max“ stehen sie hinter Glas wie Geschmeide in der Auslage: Schokomoussetorte, Kanadischer Cheesecake, Mohnmousse. Das Café am Schulterblatt im Hamburger Szenebezirk Schanzenviertel wirkt nicht nur, als hätte einer Omas alte Möbel in die noch ältere Ausstattung eines Milchladens gestellt. Matthias Max hat genau das gemacht. „Ich will die gemütliche Atmosphäre des Sonntagsnachmittagskaffees bei Oma zelebrieren und die Erinnerung an großartigen Geschmack wiederbeleben“, sagt der Hamburger Konditor. Mit seiner Konditorei ist er dort hingegangen, wo das Publikum eher zu portugiesischen Natas und Coffee to Go greift. Anscheinend hat er damit die Lücke gefüllt, die jahrelange Enthaltsamkeit geschlagen hatte. Bei „Herrn Max“ geht’s um die Gemütlichkeit. Und dazu gehört die Torte, die die alten Damen aus dem benachbarten Seniorenheim ebenso schätzen wie die morgendlichen Schulschwänzer, die sich ein Stück teilen oder die Kreativarbeiter aus den umliegenden Büros, die die Torte zum Dessert nehmen. „Morgens Superfood für den Körper, nachmittags Torte für die Seele“, sagt Matthias Max, der am Wochenende schon mal 25 ganze Torten verkauft. Eine Torte hat zwölf bis 14 Stücke.

Jetzt werden auch semi-naked-Torten aufgetischt

Max ist nicht der Einzige, der von der neuen Lust am alten Handwerk profitiert. Die üppige Schönheit tritt wieder selbstbewusst auf. Das Geheimnis des Erfolgs liegt in der Kreativität – auch bei den Klassikern. Zwar werden jedes Jahr auf der Internationalen Handwerkermesse acht neue Tortenkreationen präsentiert. „Die Leute staunen darüber, doch eigentlich lieben sie die Klassiker“, sagt Elisabeth Arnold Schwankhart, seit 1989 Fachlehrerin für Gestaltung und Praxis an Deutschlands renommiertester Meisterschule für das Konditorenhandwerk in München. Das weiß auch Matthias Max. „Wenn ich Schwarzwälder Kirsch und Lübecker Nuss in die Vitrine stellen würde, blieben die anderen Torten erst einmal stehen“, sagt er schmunzelnd. Statt der Klassiker kredenzt der 46-Jährige so genannte semi-naked-Torten, die mit hauchdünnen Böden, durchscheinender Canache, lockerer Mousse und aromatischen Früchten wie ein edles Dessous daherkommen. Oder mit zuckrigen Skulpturen verziert zu so bildgewaltigen Kunstwerken geraten, dass man beinahe Skrupel bekommt, sie anzuschneiden. Schokomousse statt Buttercreme, lockerer Quark statt schwerer Marzipandecke. Wer als Tortenbäcker Erfolg haben will, muss sich eine Menge einfallen lassen, sagt Max, der ursprünglich einmal Grafikdesigner werden wollte.

Eine Menge einfallen lassen hat sich auch die 31-jährige Bildhauerin Stephanie Illouz. Seit drei Jahren betreibt sie die Online-Konditorei CakesBerlin. Die gebürtige Israelin kreiert getreu ihrem Motto „One of a kind cakes“ Kuchenkunstwerke, die ebenso wie Max’ Torten fast zu schade zum essen sind. Der Beruf des Konditors zieht heute mehr denn je die Kreativen an. Vielleicht, weil es neben aller handwerklichen Fähigkeit vor allem auf die individuelle Gestaltungskunst ankommt. Wer Torte kann, ist mehr als ein Handwerker. Er ist eigentlich ein Kunsthandwerker.

Ob Autonomer oder Banker: alle lieben Torte

Woher die neue Lust am alten Handwerk kommt? Nicht zuletzt aus der Do-it-yourself-Welle, die auch bei Menschen unter 50 Jahren für ein wieder erstarkendes Interesse am Backen gesorgt hat. Und aus den sozialen Netzwerken, in denen endlose Bilderfluten von Essen in jeder Form kursieren.

Und so sind sich Autonomer und Landwirt, Bankier und Reinigungskraft in ihrer neuen Liebe zur Torte so nahe, wie sonst nie im Leben. Laut Deutschem Konditorbund gibt es keine Unterschiede im Konsumverhalten von Stadt- und Landbevölkerung. Bis auf diese vielleicht: „Auf dem Land sind die Torten acht Zentimeter hoch, in der Stadt fünf“, sagt Elisabeth Arnold Schwankhart lachend. Und: Das experimentierfreudige Publikum lebt eher in den Szenebezirken von Berlin, Hamburg, München und Frankfurt als in Oberammergau oder Emden. Doch im Prinzip ist es egal, in welcher Form die glückselig machende Kreation auf dem Fest erscheint. Die Hauptsache ist: sie erscheint.