Stuttgart - Was beim Essen im Trend liegt, zeigt sich beim Blick auf die Bestsellerlisten. Ganz oben stehen da Bücher zum Brotbacken, zu vegetarischen oder veganen Gerichten, zum Intervallfasten oder zuckerfreien Leben. Das Interesse an gesunder, nachhaltiger und regionaler Ernährung sei zuletzt spürbar gewachsen, heißt es bei Deutschlands größtem Buchhändler Thalia. Auch zeitintensive, aufwendige Rezepte seien dabei verstärkt gefragt.
Die Coronapandemie, das zeigt sich daran, hat das Essverhalten der Menschen in Deutschland verändert. Laut dem Ernährungsreport des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft aus dem vergangenen Jahr gab ein Drittel der Befragten an, mehr selbst zu kochen als vor der Krise. Fast ebenso viele nehmen Mahlzeiten jetzt häufiger zusammen mit anderen ein. Laut der Befragung ist es knapp 80 Prozent der Menschen wichtig, dass die Lebensmittel aus der Region kommen – und sogar noch etwas mehr von ihnen würden ein staatliches, unabhängiges Tierwohlkennzeichen begrüßen. Die deutlich gestiegene Nachfrage nach Biolebensmitteln bescherte dem Segment im vergangenen Jahr einen Rekordumsatz, auch die Direktvermarktung über Hofläden oder Gemüsekisten boomt.
Durch die Coronapandemie gewinnen Trends schneller an Fahrt
Dabei sind Gesundheit, Regionalität und Nachhaltigkeit beim Essen keine neuen Trends. Das Virus, schreibt die Ernährungswissenschaftlerin Hanni Rützler in ihrem „Food Report 2021“, ändere unsere Esskultur in eine Richtung, in die sie sich ohnehin verändern wollte. Aber: Trends, die einen Bruch mit gewohnten Routinen ankündigen, „gewinnen nun schneller an Fahrt“.
Viele Menschen würden sich nun noch stärker auf eine gesundheitsfördernde Ernährung fokussieren, erkennbar zum Beispiel an hohen Absatzzahlen von Nahrungsergänzungsmitteln. Auch Lebensmittel, denen positive Wirkungen etwa für die Darmgesundheit oder das Immunsystem zugeschrieben werden, gewinnen demnach an Bedeutung, so Ernährungsexpertin Rützler. Zudem bemerkt sie einen Trend hin zu einem ganzheitlichen Verständnis von Gesundheit beim Essen, Soft Health genannt: Dabei gehe es um „Ausgewogenheit, Vielfalt und um Speisen mit einem hohen Anteil an Gemüse, Hülsenfrüchten und Getreideprodukten“.
Die kulinarische Aufwertung von pflanzlichen Nahrungsmitteln sei weiterhin voll im Gange, schreibt Hanni Rützler. Die Lebensmittelindustrie sei auf den Zug aufgesprungen, Nahrungsmittel aus Fleisch oder mit Milchprodukten durch immer ausgeklügeltere Produkte aus nicht tierischen Ausgangsprodukten zu ersetzen. „Angetrieben wird der Trend durch ein vor allem bei den jüngeren Generationen wachsendes Gesundheits- und Umweltbewusstsein, aber auch durch den Wandel ethischer Werte und Normen, die mittlerweile nicht mehr mit der industriellen Tierzucht und Fleischproduktion vereinbar sind.“
Die Pluralität bei den Bedürfnissen wird auch in Zukunft bleiben
Wie aber passt das zusammen, ein Bedürfnis nach mehr Natürlichkeit und Produkten auf dem Teller, die direkt vom Bauernhof kommen – und gleichzeitig ein wachsender Absatz von Ergänzungsmitteln und hochverarbeiteten Fleischersatzprodukten? Muss es gar nicht, sagt die Berliner Zukunftsforscherin Friederike Riemer. Essen sei ein starker Ausdruck des eigenen Wertesystems, aber auch der eigenen ökonomischen Situation – daher könne man eine ganze Gesellschaft da nicht über einen Kamm scheren.
„Es gibt eine Vielzahl an unterschiedlichen Bedürfnissen – und diese Ausdifferenzierung, diese Pluralität wird auch in Zukunft bleiben.“ Wer viel arbeitet, sich als Leistungsträger oder -trägerin versteht, wird also künftig vielleicht eher zu kleinen, durch Zusätze optimierten Snacks greifen. Während totale Genießer einen Zugewinn an Zeit – in Zukunft etwa durch Veränderungen der Arbeitswelt – dazu nutzen, mehr zu kochen und in Gemeinschaft zu essen.
Aus unserem Plus-Angebot: Wie der Darm die Gesundheit beeinflusst
Auch neue technische Möglichkeiten werden wohl erst einmal nur von einer bestimmten Gruppe genutzt: Eine individuelle Analyse des eigenen Darm-Mikrobioms etwa oder der DNA mit passgenau abgestimmten Ernährungsempfehlungen kann sich nicht jede und jeder leisten. „Ich kann mir aber vorstellen, dass große Firmen in diesem Bereich investieren werden und ihren Mitarbeitern irgendwann eine für die Darmbakterien optimierte Kantinenernährung anbieten“, sagt Riemer. So würden solche Möglichkeiten auch für die Mittelschicht zugänglich.
Der Klimawandel wird unumstößliche Veränderungen bringen
Riemer ist Mitgründerin von „The Future Game 2050“. Das Konzept soll Organisationen und Unternehmen dabei helfen, Visionen zu entwerfen. Denn Zukunft sei ein Stück weit auch gestaltbar, betont Riemer. Nur ein Trend sei so stark, dass er unumstößliche Veränderungen mit sich bringen werde: der Klimawandel. „Massentierhaltung und der Fleischkonsum auf dem heutigen Niveau haben keine Zukunft“, ist sie überzeugt. Zum einen aus ethischen Gründen. Zum anderen aus Ressourcengründen: „Dieses System wird kollabieren.“
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Vor zwei Jahren haben Forschende der Eat-Lancet-Kommission berechnet, wie die Welt bis zum Jahr 2050 zehn Milliarden Menschen gesund ernähren soll, ohne dass der Planet dabei zerstört wird. Um die Hälfte müsste nach diesen Berechnungen der Konsum von Zucker, aber vor allem von rotem Fleisch weltweit reduziert werden, gleichzeitig würde sich der Anteil von pflanzlichen Nahrungsmitteln wie Gemüse, Hülsenfrüchten und Nüssen verdoppeln. Auch der Hohenheimer Ernährungswissenschaftler Jan Frank ist überzeugt, dass die aktuelle Ernährungsweise der Deutschen nicht nachhaltig und zukunftsfähig ist – und sich der Konsum tierischer Produkte auch hierzulande mindestens halbieren müsste.
Gutes Fleisch werden sich in Zukunft viele nicht mehr oft leisten können
Die Zukunft sieht der Ernährungswissenschaftler in einer Art Rückbesinnung auf „alte Kamellen“, wie er sagt: auf vollwertige, regionale, unverarbeitete Produkte etwa vom Wochenmarkt – und eben auf weniger Fleisch. Damit sich tatsächlich auch etwas verändert, hält Frank es für wichtig, dass schon Kinder Essen angeboten und vorgelebt bekommen, das solchen Kriterien entspricht. „Früh eine Wertschätzung zu schaffen für Lebensmittel ist wichtig.“
Schon heute ernähren sich einer Untersuchung der Universität Göttingen zufolge doppelt so viele 15- bis 29-Jährige vegetarisch oder vegan wie in der Gesamtbevölkerung. Auch der Anteil der Flexitarierinnen und Flexitarier ist hier höher. Und: Von jenen, die Fleisch essen, geben 44 Prozent an, den Konsum künftig reduzieren zu wollen.
Gutes Fleisch, ist Friederike Riemer überzeugt, wird künftig eher ein Nahrungsmittel sein, das sich viele nicht mehr oder nicht mehr oft leisten können werden. „Die große Masse an Menschen wird Produkte aus pflanzlichen Proteinen oder synthetisch hergestellten Proteinen essen“, sagt Riemer: also Fleischersatzprodukte, wie es sie heute schon gibt, oder Fleisch, das im Labor aus Gewebezellen kultiviert wird. „Der Markt wird da stark in diese Richtung gehen.“