Bundeswehr-Reservisten Die altgedienten Soldaten trainieren in Stetten

„In Linie zu einem Glied!“ Jörg Hildenbrand von der Reservistenkameradschaft Reutlingen (links) lässt seine Übungseinheit antreten. Foto: /Wolfgang Albers

Die Bundeswehr soll schlagkräftiger werden. Da sind altgediente Soldaten wieder wichtig. Auf dem Truppenübungsplatz Heuberg bei Stetten üben sie schon mal. Ein Besuch vor Ort.

„Klar zum Gefecht!“, brüllt eine Stimme in die Mittagshitze. Ein Trupp Soldaten hastet zu Erdwällen und einigen Mauern, wirft sich in Deckung, legt die Gewehre an. Oberstleutnant Jörg Ebert hat den Befehl gegeben. Es war nicht sein erster an diesem Tag, der Mann klingt schon etwas heiser: „Die Kommandostimme ist etwas eingerostet“, sagt er.

 

Corona hat nicht nur Schulen, Konzerthallen, Wirtschaften geschlossen, sondern auch den Truppenübungsplatz Heuberg bei Stetten am kalten Markt. Generationen von Soldaten haben den Ort hoch auf der Alb umgetauft zu „am kalten Arsch“. Aber an diesem Tag knallt eine sengende Sonne in die Wiesen und geschotterten Panzerbahnen. Hitze flimmert, Staub staubt, Schweiß fließt. „Vorwärts, vorwärts“ brüllt Ebert, weil seine Truppe fast schon schlendert. Reserve hat keine Ruh.

So martialisch Ebert und seine Leute eingekleidet sind mit den Uniformen im Tarnlook, den Helmen mit dem Netz aus Kunstlaub, den Schutzwesten, Munitionstaschen, Marschstiefeln: Sie alle sind nur Soldaten, solange sie auf dem Übungsplatz sind. Verlassen werden sie ihn in Zivil, auf dem Weg zurück in ihre Berufe als Handwerker, Manager, Beamte. Oder als Fahrlehrer wie Jörg Ebert aus Reutlingen.

Der Reservisten-Verband hat 110 000 Mitglieder

Reserve hat Ruh: So der Titel eines Films von 1931 und eine Zeile aus alten Soldatenliedern. Aber unter den Nazis hatte sich das mit der Ruh schnell erledigt, und auch im Kalten Krieg plante die Bundeswehr ihre Reservisten ein: Stellenweise hätte sie auf 2,7 Millionen zurückgreifen können, selbst 1990 standen hinter den 500 000 aktiven Soldaten noch 800 000 schnell aktivierbare, ständig trainierte Reservisten.

Danach sank die Zahl der aktiven Soldaten stetig auf aktuell rund 180 000 – und damit auch die Zahl der Reservisten. Das ist jeder, der nur einen Tag Soldat war. Wer will, kann nach dem Militärdienst in einen Verein eintreten, den Reservistenverband. Der hat etwa 110 000 Mitglieder. Wie weit sich die gedienten Kameraden noch für die Bundeswehr interessieren oder engagieren, ist ihre Privatsache und je nach Ortsgruppe sehr unterschiedlich.

Jörg Schlosser arbeitet in Eningen als Versicherungsmakler, hier auf dem Truppenübungsplatz schlüpft er unter ein weites Tarnnetz, das über zwei Lkw gelegt ist. Die Ladeflächen sind als mobiler Kommandostand eingerichtet. Als Jörg Schlosser hinaufklettert, in Uniform und mit Helm vor der Brust, stehen einige Soldaten bereit: „Der Leitende kommt!“

Jörg Schlosser ist Oberstleutnant der Reserve und an diesem Wochenende für eine große Übung verantwortlich: Gut 80 Reservisten aus dem ganzen Land sind gekommen, um an verschiedenen Stationen unterschiedlichste Fähigkeiten wieder aufzufrischen – vom Schießen bis zur Ersten Hilfe.

40 000 Reservisten haben annähernd militärisches Trainingsniveau

40 000 Reservisten, schätzt Schlosser, haben bundesweit ein annähernd militärisches Trainingsniveau. Weit weg also von früheren Zahlen. „Wir versuchen, solche Strukturen wieder aufzubauen, weil die Verteidigung nun absolute Priorität genießt.“

Das ist jetzt die offizielle Bundeswehrpolitik. Bis zum Jahr 2031 soll die trainierte Reserve personell und materiell wieder die perfekte Ergänzung zum aktiven Heer sein. Markus Laubenthal, der zuständige Generalleutnant, drückt es so aus: „Die Reserve gewährleistet den Aufwuchs der Streitkräfte, sie verstärkt die Einsatzbereitschaft und erhöht die Durchhaltefähigkeit im gesamten Aufgabenspektrum der Bundeswehr, insbesondere für die Landes- und für die Bündnisverteidigung.“

Dafür engagiert sich Jörg Hildenbrand. Der Manager ist Oberstleutnant der Reserve und leitet jetzt einen Übungstrupp. Seine Leute pumpen mit Handspritzen Wasser in ein Panzerwrack, aus dem Flammen schlagen. Löschen, weil noch ein Soldat drinsteckt, lautet die Aufgabe.

Oberbürgermeister und Soldat

Im heimischen Reutlingen leitet Hildenbrand auch die Reservistenkameradschaft. Er sagt stolz: „Wir sind die Grünen.“ Eine Anspielung auf die Kampfanzüge. Der Terminkalender der Reutlinger ist voll mit Gefechtsübungen: Märsche, Schusstraining oder Jagdkampfbiwaks, also überraschende Angriffe aus einem mit Planen getarnten Erdloch. Renommieren konnte man damit lange Zeit nicht. „Die Leute betrachteten uns kritisch und glaubten, man braucht uns nicht“, sagt Jörg Hildenbrand. Aber für ihn ist spätestens seit dem Ukraine-Krieg klar: „Solange wir uns fit halten, wird Russland sich nicht mit der Nato anlegen.“

„Beruft man dich bald ein?“ wird Florian Kling in letzter Zeit wieder öfters von Freunden und Bekannten gefragt. Zwölf Jahre war er bei der Bundeswehr. Er ist Hauptmann – und jetzt das erste Mal bei einer Reservistenübung. Sein Hauptberuf lässt ihm sonst wenig Zeit dafür. Er ist der Oberbürgermeister von Calw. Auch er leitet einen Übungstrupp. Seine Leute sind zu drei verbeulten Autos mit Einschusslöchern gekommen. Das Set-up sagt: Verkehrsunfall mit sechs Verletzten und einem Verwirrten.

Verwundete auf dem Schlachtfeld werden gespielt

Die Schauspieler von der Kameradschaft Stetten sind gut eingepinselt mit roter Farbe – so könnten auch Verwundete auf dem Schlachtfeld aussehen. Zackig hallen Kommandos über den Platz, die Soldaten reißen ihre Erste-Hilfe-Packs auf, Hauptmann Kling sammelt Meldungen. Bis 2019 war Florian Kling auch Vorsitzender des „Darmstädter Signals“ – Soldaten, die sehr kritisch zur Bundeswehr standen und sich zur Friedensbewegung zählten. „Die unbequemste Soldatenvereinigung, mit der sich deutsche Verteidigungsminister je herumschlagen mussten“, schrieb die „taz“ einmal.

In Calw hat Kling nun selber eine Kaserne vor Ort – und macht, was der Reservistenverband als politischen Auftrag bekommen hat: Er ist Mittler zwischen Bundeswehr und Bürger. „Der Stand der Bundeswehr ist besser geworden bei der Bevölkerung“, sagt er, „sie gilt als notwendig für den Ernstfall.“

Also üben sie weiter. Am Schießstand steht eine Reservistin ohne Mütze und kassiert einen Anschiss. An der sogenannten Kampfbahn testet Stabsfeldwebel Dietmar Schulze den Mut der Reservisten. Sie müssen sich von einem Turm abseilen und hinterher penibel die Gurte zusammenlegen. „Ich hoffe, Sie hatten Spaß. Darauf ein dreifaches Horrido!“ – „Joho“ brüllt es dreifach zurück. Auf einer Schlaglochpiste kriecht ein Transportpanzer Fuchs. Vorsichtig suchen Soldaten zu Fuß Sprengfallen, und dann kommt noch eine verschleierte Frau herbei. Ein Afghanistan-Szenario. Ist eigentlich nicht mehr aktuell, findet Jörg Hildenbrand mit Blick auf die Kämpfe in der Ukraine: „Bei uns geht es schon in Richtung Heimatschutz, zum Beispiel mit Panzervernichtungstrupps.“ Die Reutlinger werden das zunächst theoretisch üben und dann für das praktische Häuserkampf-Training noch einmal nach Stetten kommen.

Gegner aus Pappe

„Jeder Soldat gibt ein Gelöbnis ab, der Bundesrepublik zu dienen und die Freiheit zu schützen“, sagt Martin Tröster. „Dazu stehe ich.“ Seit 14 Jahren gehört er zu der Reutlinger Kameradschaft. Sein Arbeitgeber, sagt Tröster, lasse ihn seit Kurzem bereitwilliger zu den Übungen ziehen: „Man merkt wieder, dass man die Bundeswehr für erforderlich hält.“

Das ist für Jörg Hildenbrand, der jedes Jahr zwei Wochen zur deutsch-französischen Brigade geht und dort Kollegen ersetzt, die etwa zur Nato-Ostgrenze rotieren, schon lange klar. Aber auch für ihn hat sich das Reservistendasein verändert. „Kämpfen ist schon eine Sache geworden, mit der man sich jetzt intensiver beschäftigt. Das Thema ist nähergekommen.“ Auch, weil seine Frau Ukrainerin ist. Die Verwandtschaft sitzt in Mariupol und auf der Krim.

Die Bilder aus der Ukraine verfehlen ihre Wirkung nicht: „Man sieht, dass die Fahrzeuge, die eingesetzt werden, nicht so unverletzlich sind, wie man in früheren Jahren gedacht hat.“ Als Hildenbrand vom Schießen zurückkommt, wo Papp-Silhouetten von gegnerischen Soldaten immer näher über die Übungsplatz-Steppe an die Feuernden heranrückten, geht ihm zum ersten Mal durch den Kopf: „Nicht nur wir schießen, es kann auch was kommen von der anderen Seite. Das ist mir hier bewusster geworden als je zuvor.“

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