Vor 25 Jahren kam die strahlende Fracht aus Tschernobyl nach Stuttgart. Frische Produkte waren schmutzig, konservierte Lebensmittel beliebt.  

Stuttgart - "Die Wolke aus Tschernobyl ist da." Der Anruf des damaligen Hohenheimer Professors Hermann Schreiber verändert am 1. Mai 1986 die redaktionellen Abläufe in der StZ-Redaktion schlagartig. Wenige Stunden zuvor hatten die empfindlichen Strahlenmessgeräte im Isotopenlabor des Instituts für Physik recht heftig ausgeschlagen: Vier Tage nach der Reaktorexplosion in Tschernobyl steigt die radioaktive Belastung in der Nacht zum Maifeiertag innerhalb von wenigen Stunden auf das Vierzigfache der natürlichen Hintergrundstrahlung an.

 

Draußen, in der Stuttgarter Frühsommeridylle, ist tagsüber davon nichts zu sehen, zu schmecken oder zu riechen - die strahlende Fracht aus radioaktivem Jod131 und Cäsium 137 aus der 2000 Kilometer entfernten Atomruine ist unsichtbar. Sie legt sich auf die Viehweide, auf den knackigen Freilandsalat, sie liegt im Sandkasten und sie klebt an den Schuhsohlen.

"Freilandgemüse beschlagnahmt!"

Schreiber und seine Mitarbeiter kommen kaum noch aus ihrem Labor - sie untersuchen im Lauf der nächsten Wochen mehr als 2000 Lebensmittelproben. Außerdem geben viele Gemeinden zahlreiche Sandproben von Spielplätzen ab. Oft können die Hohenheimer Wissenschaftler Entwarnung geben, aber nicht immer: Angeblich italienischer Spinat ist stark verstrahlt. "Wer ein Pfund davon isst, hat ein Zehntel seiner Jahresdosis an radioaktivem Jod weg", erklärt der Wissenschaftler damals.

Das unheimliche Fremdwort Becquerel ist plötzlich der Maßstab aller Dinge. Wie viel Becquerel, wie viele radioaktive Zerfälle pro Sekunde verträgt der Mensch? Im Stuttgarter Großmarkt überprüft der Wirtschaftskontrolldienst Salat, Tomaten, Radieschen und Rhabarber mit dem Geigerzähler. Alles, was frisch vom Feld auf den Tisch kommen soll, ist verdächtig. Viele Stiegen Salat sind kontaminiert, auf dem Acker stehendes Gemüse wird untergepflügt, weil niemand es kaufen will. "Freilandgemüse beschlagnahmt", lautet am 6.Mai 1986 die größte Schlagzeile im StZ-Lokalteil. Mit großen Werbetafeln preisen die württembergischen Gemüsegärtner stattdessen den verunsicherten Konsumenten "unbelastetes Gemüse aus unseren Gewächshäusern an".

1986 gab es keine Einsatzpläne für solche Katastrophen

"Die Lage in diesen Maitagen war hochdramatisch", erinnert sich der Physiker Schreiber zehn Jahre nach dem atomaren Super-GAU in der StZ. "Wir hatten überhaupt keine Informationen über den brennenden Reaktor und mussten jederzeit mit neuer Strahlenfracht aus der Ukraine rechnen." Den Politikern stellt er kein gutes Zeugnis aus: "Die wussten rein gar nichts. Sie beriefen laufend Krisenstäbe ein, die aber öffentlich auf keinen Fall so bezeichnet werden durften." Es habe im Mai 1986 auch keine Einsatzpläne für Katastrophenfälle vom Kaliber Tschernobyl gegeben. Das Atomdesaster habe alle vorgedachten Szenarien gesprengt.

"Die Gesundheit der Bevölkerung ist durch den Reaktorunfall in Tschernobyl nicht gefährdet", stellt Gerhard Weiser, Landesminister für Gesundheit und Umwelt, wenige Tage nach der Reaktorexplosion fest. Solche Aussagen beruhigen die Bürger allerdings nicht. Dürfen Kinder im Freien spielen? Kann ich den Salat aus meinem Garten noch essen? Das sind Fragen, die Menschen bewegen. "Ich habe noch nie so elementare Ängste bei der Bevölkerung erlebt wie in diesen ersten Maitagen", sagt der 2004 verstorbene Umweltmediziner Hanns Stichler, der 1986 stellvertretender Leiter des städtischen Gesundheitsamtes war, im StZ-Interview.

Jodtabletten nicht mehr verfügbar

Im Großen Saal des Rathauses muss Stichler in einer Gemeinderatssitzung das Unfassbare vor vollen Zuhörerrängen erklären - das Informationsbedürfnis der Bürger ist riesengroß. An der Empore hängt ein Anti-Atom-Transparent: "Wackersdorf, Kalkar, Brokdorf, Harrisburg, Neckarwestheim, Tschernobyl" ist in großen Lettern zu lesen.

Gefragt sind im Mai 1986 auch Jodtabletten, um die Schilddrüse vor der radioaktiven Fracht aus Tschernobyl zu schützen - doch die Apotheken haben nichts in den Regalen. "Meine drei Päckchen waren in einer Minute weg", erinnert sich ein Apotheker. Nachschub kann der Großhandel nicht liefern.

Die "Mütter gegen Atomkraft"

Ludmilla Fromme, Mutter von damals sechs, sieben und neun Jahre alten Kindern, politisiert das atomare Desaster in der Ukraine. "Ich habe mich mit anderen Frauen über die Kernschmelze in dem amerikanische Atomkraftwerk Harrisburg und die katastrophalen Zustände in der britischen Atomanlage Sellafield informiert." Die "Mütter gegen Atomkraft" aus Sillenbuch werden rasch bekannt. Bei ihrem ersten Infoabend über die atomare Gefahr im Stadtbezirk drängen sich mehr als 200 Zuhörer in dem viel zu kleinen Saal.

Die aktuellen Fernsehbilder aus Japan, aus der Region Fukushima, berühren die Atomkraftgegnerin Fromme in diesen Tagen stark. "Den Menschen in den Auffanglagern geht es viel schlechter als uns damals." Leider habe die Menschheit nichts aus Tschernobyl gelernt. "Wir haben schon damals Unterschriften für den Ausstieg aus der Atomenergie gesammelt", so Fromme. Doch die Gefahr sei verdrängt worden. "Ich erwarte aber, dass die neue Landesregierung die Energiepolitik grundlegend ändert."

Frische Milch bleibt im Kühlregal stehen

Im Mai 1986 hat auch Ludmilla Fromme große Angst um die Gesundheit ihrer Kinder. Sie lässt sich davon aber nicht lähmen: Mit ihrem Mann und weiteren Mitstreitern organisiert sie eine Lastwagenladung Milchpulver, "um Babys und Kleinkinder mit sauberer Milch versorgen zu können". Das Milchpulver, eine Spende aus der Nahrungsmittelreserve der Bundesregierung, ist in Stuttgart heiß begehrt. Frische Milch hingegen bleibt in diesen Tagen im Kühlregal stehen, um die Bestände an H-Milch prügeln sich Kunden beinahe in den Geschäften. Tschernobyl hat die Verhältnisse auf den Kopf gestellt: Frische Naturprodukte sind plötzlich "schmutzig", konservierte Lebensmittel auf einmal "gut".

Es gibt aber auch Menschen, die 1986 im zu 80 Prozent mit Atomstrom versorgten Stuttgart begonnen haben, die Dinge zu verändern. "Wie können wir auf Tschernobyl reagieren?", fragt sich die Elterninitiative an der Freien Waldorfschule auf der Uhlandshöhe. Sie beschließen, die Schule durch ein umweltfreundliches Blockheizkraftwerk mit Strom und Wärme zu versorgen. Fünf Jahre später steht der stationäre Erdgasmotor - "Kraftzwerg" genannt - im Schulkeller. Das gelungene Experiment auf der Uhlandshöhe hat keine Schule gemacht. Aber es hat gezeigt, dass die Energiewende schon vor 25 Jahren möglich war.