Aus dem Unglück in Tschernobyl kann man heute lernen. Solche Ereignisse verändern die gesellschaftlichen Werte, meint StZ-Redakteur Alexander Mäder.  

Stuttgart - Die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima haben den Blick auf die wahren Kosten des Atomstroms geschärft. Die dramatischen Auswirkungen eines Unfalls sind sichtbar geworden, ebenso das große menschliche Leid und natürlich die Ratlosigkeit beim Umgang mit dem noch lange strahlenden Abfall. Hunderttausende haben ihr Haus verloren, viele ihr Leben, und noch in 100 Jahren werden Roboter den einbetonierten Reaktor in Tschernobyl zerlegen und die radioaktiven Überreste in ein Endlager transportieren. Auch in Fukushima dürften die Abrissarbeiten Jahrzehnte dauern.

 

Es ist daher nicht zu erwarten, dass Atomkraftwerke künftig einen großen Teil des Stroms produzieren, denn an dem neuen Risikobewusstsein kommen die Energiekonzerne nicht mehr vorbei. Der UN-Generalsekretär hat zwar weitere nukleare Katastrophen vorhergesagt, weil einige Staaten nicht auf die Atomenergie verzichten wollten. Dennoch ist Atomstrom auf dem Weg zu einem Nischenprodukt.

Auch die gesellschaftlichen Werte wandeln sich

Derzeit sind weltweit zwar 64 Meiler im Bau, doch viele sind es schon seit langem. Das US-amerikanische Kraftwerk Watts Bar 2 soll im kommenden Winter ans Netz gehen - 39 Jahre nach Baubeginn. In den USA, dem Land mit den meisten Atomkraftwerken, ist seit einem ernsten Unfall im Jahr 1979 kein Reaktor mehr genehmigt worden. In China, dem Land mit der größten Bauaktivität, soll die Zahl der Atomkraftwerke von derzeit sieben auf 32 steigen. Doch das steht in keinem Vergleich zur Baurate der Kohlekraftwerke: In dem Land wird fast wöchentlich ein Kohlekraftwerk in Betrieb genommen. Und in Finnland bauen die Konzerne Areva und Siemens einen modernen Druckwasserreaktor, der einige neue Sicherheitstechniken aufweist. Als Fixpreis wurden drei Milliarden Euro vereinbart; dieser Rahmen dürfte inzwischen deutlich überschritten sein.

Es gibt aber noch mehr aus den nuklearen Katastrophen zu lernen - auch in Deutschland, wo nun scheinbar radikale Konsequenzen gezogen werden. Die gesellschaftlichen Werte wandeln sich zwar dramatisch. Den Menschen entgleitet die Überzeugung, dass Wissenschaft und Ingenieurskunst es schon richten werden. Diese Erosion an Vertrauen messen Meinungsforscher schon seit einigen Jahren, und Fukushima hat nun die Schutzbehauptung entlarvt, eine Katastrophe wie in Tschernobyl sei auf Reaktoren alter Bauart beschränkt.

Hoffen und Wünschen ist nicht genug

Wie nachhaltig dieser Wertewandel ist, steht jedoch auf einem anderen Blatt. Derzeit gibt es kaum Anzeichen dafür, dass die Menschen, die sich erst kürzlich von der Atomkraft abwandten, wissen, wohin sie stattdessen wollen. Es besteht daher die Gefahr, dass man die Fehler der Vergangenheit wiederholt: Man entwirft ein Szenario, in dem man sich um Strom keine Gedanken machen muss. Man hofft darauf, dass die Forschung bald effizientere Energiequellen erschließen wird, und man wünscht sich große, zuverlässige Kraftwerke, die sehr günstig Strom produzieren.

Hoffen und Wünschen wird für die Energiewende aber nicht genügen. Die Bundesregierung muss in ihrem Haushalt neue Prioritäten setzen, denn sie gibt bis heute mehr Geld für nukleare Energieforschung und Endlager aus als für Projekte mit regenerativen Energien. Auf die Stromkonzerne und Netzbetreiber kommen beträchtliche Investitionen zu, denn die Energiewende ist nur mit einer ganz neuen Infrastruktur zu schaffen. Und die Verbraucher werden bereit sein müssen, deutlich höhere Preise für energetischen Luxus zu zahlen, der das Klima belastet. Ein warmes Bad, ein Rindersteak, ein Flug - die Preise spiegeln derzeit nicht die wahren Kosten wider.

Der zerplatzte Traum vom Atomstrom im Überfluss ist eine Mahnung vor übergroßem Optimismus. Energie wird in Zukunft teurer werden - das muss die zweite Lehre aus Tschernobyl und Fukushima sein.