Nils Daniel Finckh inszeniert im Stuttgarter Theaterhaus „Tschick“ nach Wolfgang Herrndorf – und hält dabei nicht immer dem Vergleich mit der fulminanten Romanvorlage stand.

Stuttgart - Zwei vierzehnjährige Jungs, ein geklauter Lada und das Gefühl von Freiheit sind die Ingredienzien, die Wolfgang Herrndorfs Roman „Tschick“ in die Bestsellerlisten hievten, das Hörbuch zum Kassenschlager machten und gewiss auch zu einer Verfilmung führen werden. Soweit der gewöhnlich Weg eines Literaturhits. Dass die komisch-melancholische Geschichte eines Pubertätshelden aber auch auf der Bühne zum Publikumsmagneten wurde, ist dagegen ungewöhnlich.

 

Jetzt steht „Tschick“ im Stuttgarter Theaterhaus auf dem Spielplan – und muss der starken Romanvorlage standhalten. Das Bühnenbild weckt die Hoffnung, dies könne funktionieren. Zwei kalte Betonwände, die auf einen schmalen Spalt zulaufen, liefern die bedrückende Atmosphäre der Enge, in der sich die Hauptfigur Maik Klingenberg bewegt: in der Schule, in der er unter autoritären Lehrern und der Ignoranz seiner Mitschüler leidet, ebenso wie zu Hause, wo er zwischen seiner alkoholkranken Mutter und seinem wirtschaftlich glücklosen Vater zerrieben wird. Nur die traurigen Reste seiner Kindheit – eine Schaukel, eine Waschschüssel und Plastikspielzeug – zeugen noch von jenem Teil seines Lebens, in dem er glücklich war und dem er jetzt entwächst.

Starker Kontrast zwischen Tragik und Komik

Noch enger und spürbar unangenehmer wird dieser Bühnenraum, wenn seine Eltern übergroß auf die Wände projiziert werden und Maik sich ihren Streitereien nicht entziehen kann – ein starkes Bild für die Übermacht der Eltern und die emotionale Hilflosigkeit des Jungen. Und weil für diese Videoeinspieler die Filmschauspieler Pheline Roggan („Soul Kitchen“) und Andreas Schmidt („Sommer vorm Balkon“) gewonnen werden konnten, die vom Kameramann und Videokünstler Alexander du Prel hervorragend in Szene gesetzt werden, eben darum geraten diese Szenen auch schmerzhaft-eindrücklich.

Doch hier beginnt schon der Unterschied zwischen Romanvorlage und Bühnenfassung: Während es dem Autor Wolfgang Herrndorf in seinem Roman gelingt, auch die leidvollen Erfahrungen des heranwachsenden Ich-Erzählers in einem ironisch-distanzierten Ton zu vermitteln, setzt Nils Daniel Finckh in seiner Inszenierung auf den starken Kontrast zwischen Tragik und Komik. Das tut den Figuren nicht gut, denn sie rutschen ins Klischeehafte ab. So zum Beispiel die zweite Hauptfigur des Stücks: Andrej Tschichatschow, genannt „Tschick“. Während er im Roman zunächst als ruhiger, geheimnisvoller Charakter eingeführt wird, der durch seine Klamotten in der Unterschicht angesiedelt ist, dies aber mit vornehmer Wortwahl kontrastiert und dementiert, tritt er im Theaterhaus als clownesker Volltrunkener auf. Das ist zwar publikumswirksam, lässt aber eine Vielschichtigkeit vermissen. Man täte Yavuz Köroglu, der den Tschick verkörpert, indes Unrecht, reduzierte man ihn nur auf diese Szene. Denn im Verlauf des Stücks zeigt er auch die verschiedenen Facetten der Figur, deren kindliche Seite, die immer mit Melancholie durchzogen ist, sowie die hochsensible, gipfelnd in der Szene, in der er offenbart, dass er sich nicht für Mädchen interessiert. Aron Keleta als Maik Klingenberg überzeugt zwar in gefühlvollen Passagen, ringt allerdings häufig mit der Rastlosigkeit der Sprache und der Fülle des Textes, weshalb er manche Pointe schlicht verschenkt – was freilich auch der Nervosität einer Premiere geschuldet sein könnte.

Mädchen in der Schamgegend

Leider nur Reibungspunkte ergeben sich zwischen seinem Maik und der Figur der Isa Schmidt, gespielt von Julia Kelz. Was eine sensible Dreiecksgeschichte sein könnte – Maik verliebt sich in Isa, Tschick verliebt sich in Maik –, wird im Theaterhaus zu einer leicht albernen Sexklamotte. Statt als junge sensible Pubertierende, die sich nur hinter einer harten Fassade versteckt, ist diese Isa unangenehm ordinär angelegt. Sie kratzt sich ständig in der Schamgegend und will statt einem Kuss, mit dem sie Maik ohnehin schon überfordert, gleich umweglos einen „Fick“.

Möglich, dass der Regisseur Nils Daniel Finckh mit der ausgestellt harten Mädchenfigur, den teilweise eindimensionalen Charakteren und dem starken Kontrast von Humor und Leid eine jugendliche Zielgruppe erreichen wird, schließlich hat er durch seine langjährige Theaterarbeit an Schulen einen direkten Bezug zu den Interessen und Bedürfnissen von Heranwachsenden. Doch wer den Roman „Tschick“ in Erinnerung hat und auch Zwischentöne hören möchte, dem dürfte bei dieser Inszenierung im Theaterhaus die raffinierte Leichtigkeit der Vorlage fehlen.