Die Handballer der TSV Hannover-Burgdorf sind bekannt als Serientäter – im Positiven wie im Negativen. Nach ihrem Triumph über den deutschen Meister SG Flensburg-Handewitt und sieben Bundesligasiegen hintereinander stellt sich die Frage: Wo führt die Reise des Überraschungsteams hin?

Sport: Jürgen Frey (jüf)

Hannover - Auto um 8 Uhr von der Werkstatt holen, Frühstück mit dem Teamkollegen Vincent Büchner, 13 Uhr Training. So sah das Programm von Domenico Ebner in der ersten Tageshälfte des Freitags aus. Das deutete nicht auf eine rauschende Party der TSV Hannover-Burgdorf in der Nacht nach dem 23:22(11:11)-Triumph am Donnerstagabend über die SG Flensburg-Handewitt hin.

 

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„Es war schon ausgelassen in unserer Kabine“, sagt der Torwart des Handball-Bundesliga-Spitzenreiters. „Aber anders, nicht ganz so ausgelassen wie in Bietigheim.“ Dann schiebt er die Begründung mit einem Schmunzeln hinterher: „Mit der SG BBM haben wir eben nicht so oft gewonnen.“ Sechs Siege fuhr der 25-Jährige in den 34 Spielen der vergangenen Saison mit seinem abgestiegenen Ex-Club ein. Mit seinem neuen Verein hat er nach sieben Spieltagen schon einen Sieg mehr auf dem Konto.

Riesenmoral nach Rückstand

Und gerade dieser siebte Streich vor den 6023 Zuschauern im Lärm-Tempel Tui-Arena war ein ganz besonderer. Denn die ersten sechs Gegner gehörten nicht gerade zu den Giganten der Liga. Doch die SG Flensburg-Handewitt, der deutsche Meister von 2018 und 2019, ist einer der ganz Großen. „Die meisten hatten uns doch jetzt eine Klatsche prophezeit“, sagt Ebner. Es kam anders. Ganz anders. Nicht einmal ein 17:21-Rückstand zehn Minuten vor Schluss ließ die „Recken“ resignieren. Sie knackten auch den Meister – und das obwohl drei sonstige Top-Leute nicht einmal ihren besten Tag erwischten.

Urban Lesjak hält den Sieg fest

Spielmacher Morten Olsen blieb ohne Feldtor, National-Rechtsaußen Timo Kastening, der 2020 wohl zur MT Melsungen wechselt, ging komplett leer aus und auch Ebner machte im Lauf des Spiels Platz für Urban Lesjak. Der slowenische Nationalkeeper war es auch, der in letzter Sekunde den Freiwurf von Simon Jeppson parierte. „Das zeigt, dass wir eben auch in der Breite sehr gut aufgestellt sind. Unser Teamspirit ist einfach überragend“, sagt Rückraummann Fabian Böhm voller Stolz. Der Kapitän, von 2013 bis 2016 für den HBW Balingen-Weilstetten am Ball, warf nicht nur fünf Tore, der Nationalspieler riss sein Team auch immer wieder mit. „Es ist einfach geil und macht so viel Spaß mit dieser Truppe“, freute sich der 30-Jährige.

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Umbruch vor der Saison

Dabei hatte das Team vor der Runde einen gewaltigen Umbruch zu verkraften. Nationalspieler Kai Häfner wechselte nach Melsungen, die TSV-Torwart-Ikone Martin Ziemer zog es zu den Füchsen Berlin, dazu gingen weitere alte Haudegen wie Torge Johannsen, Lars Lenhoff oder Pavel Atman. Gekommen sind Talente aus der Recken-Schmiede und die drei externen Zugänge Ivan Martinovic (VfL Gummersbach), Alfred Jönson (Lugi Lund/Schweden) – und eben Domenico Ebner.

Spanische Handballschule

Der schwärmt von der spanischen Handball-Schule von Trainer-Routinier Carlos Ortega: „Wir haben zwei sehr variable Systeme für Angriff und Abwehr. In der Deckung spielen wir eine 6:0-Formation mit zwei sehr offensiven Verteidigern auf der Halbposition, die viel Druck auf die Gegenspieler ausüben. Oder aber eine 3:2:1-Abwehr, die fühlt sich an wie programmiertes Chaos.“ Von der deutschen Meisterschaft oder dem Einzug in die Champions League träumt er deshalb noch lange nicht. „Ich bleibe dabei, was wir gerade erleben, ist eine tolle Momentaufnahme“, hält der italienische Nationaltorwart den Ball flach.

Serientäter von der Leine

Sie sind vorsichtig in der niedersächsischen Landeshauptstadt. 2017/18 war die TSV mit fünf Siegen – darunter einem Erfolg in Kiel – gestartet, am Ende reichte es zu Platz sechs und die Teilnahme am EHF-Pokal. 2018/19 verlief in der Liga mit Platz 13 enttäuschend. Und auch in der Saison 2016/17 hatten die Serienätäter von der Leine im Negativen zugeschlagen: Da kosteten 16 sieglose Spiele hintereinander dem damaligen Trainer Jens Bürkle (jetzt HBW Balingen-Weilstetten) den Job.

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Wie die Schwankungen zu erklären sind? Meistens steht und fällt das Spiel des TSV mit Morten Olsen. Der 34-jährige ist das Gehirn seines Teams, er ist der Schöpfer genialer Momente – und er bringt mit seinen ansatzlosen, hammerharten Würfen die gegnerischen Abwehrreihen im Normalfall zur Verzweiflung. Während der Negativserie vor drei Jahre hatte er praktisch die Arbeit eingestellt. In dieser Saison wächst der Rechtshänder, der im Sommer 2020 in seine Heimat zurückkehrt, oft über sich hinaus. Beim 27:24 in Göppingen warf der Olympiasieger (2016) und Weltmeister (2019) 13 Tore. Dass es der Olsen-Bande nun auch ohne ihren Anführer in Topform gelang, Flensburg in die Knie zu zwingen, macht diesen Coup umso wertvoller. Und wirft die spannende Frage auf: Ist vielleicht doch mehr drin, als die Rolle des Überraschungsteams, das im Laufe der Saison nach hinten durchgereicht wird?

Weitere Hammer-Gegner folgen

Die Antwort werden schon die nächsten knapp drei Wochen bringen. Am kommenden Donnerstag (17 Uhr) steht das DHB-Pokal-Achtelfinale bei der SG Flensburg-Handewitt auf dem Programm, dann geht es am 6. Oktober in der Bundesliga zur MT Melsungen, ehe der Heimspiel-Doppelpack gegen den SC Magdeburg (13. Oktober, 16 Uhr) und die Rhein-Neckar Löwen (17. Oktober, 19 Uhr) ansteht. „Wir haben keinen Druck. Das ist unser Vorteil“, sagt Domenico Ebner. Auch das war im Kampf gegen den Abstieg in Bietigheim anders.