Neugierig, mit offenen Antennen und nicht am Vordergründigen interessiert: So ist der Berliner Künstler Tucké Royale in Ludwigsburg auf Achse gewesen.

Ludwigsburg: Susanne Mathes (mat)

Tucké Royale sitzt auf einer Bank im Innenhof der Karlskaserne und freut sich, dass der Tag Sonne zaubert, selbst wenn seine Assoziationen zum Oktober aktuell ganz andere sind. Der „Deutsche Herbst“ ist ihm gegenwärtig; er ist ihm bei seiner Spurensuche in und um Ludwigsburg zuletzt viel begegnet. Besser gesagt: Er hat die Begegnung aktiv gesucht. „Gerade heute jährt sich die Todesnacht in Stammheim zum 45. Mal“, meint er nachdenklich. Zum Terror der linksextremistischen „Roten Armee Fraktion“ wälzte Royale im Ludwigsburger Staatsarchiv Akten, tigerte um den Stammheimer Hochsicherheitstrakt herum – was dort Justizvollzugsbeamten auf den Plan rief, die das verdächtig fanden – und suchte den Stuttgarter Dornhaldenfriedhof mit dem Grab der Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe auf.

 

Der Terror, der das Land in Atem hielt

Der linke Terror, der die Region und das ganze Land damals in Atem hielt, wird am Sonntag eines der Themen in Tucké Royales Abschlussabend als Ludwigsburger Stadtschreiber sein. Seit März erkundete er in dieser Funktion die Stadt. „Die Zeit war fast zu schnell vorbei“, sagt der 38-Jährige. „Bei all den Themen, die ich da so rausgebuddelt habe, hätte ich auch ein Jahr gebrauchen können.“

Absolutes Neuland hatte der vielseitige Künstler, den eine Jury für das von der Stadt Ludwigsburg und der Wüstenrot Stiftung ausgelobte Stadtschreiber-Stipendium auserkor, nicht betreten: Er kannte die Stadt als Regie-Dozent an der Akademie für Darstellende Kunst schon ein wenig. Die ADK war es auch, die ihn für das Stipendium vorgeschlagen hatte. Wie sich die dennoch nicht allzu weit zurückliegende Erstbegegnung mit der Region anfühlte, beschreibt er so: „Als ich zum ersten Mal am Stuttgarter Bahnhof ausgestiegen bin, hatte ich schon so ein kleines Ossi-Befremden. Ich konnte mir gut vorstellen, wie es sich anfühlte, 1990 fürs Arbeiten in den Westen zu gehen.“

Schmerzpunkte und Aufbruchssituationen

Zwar war Royale ein kleiner Junge, als die Mauer fiel, „aber ich muss mich nicht mehr auf die DDR beziehen“. Die Transformation nach 1990, die heterogenen Folgen von Wendeerfahrungen, unterschiedliche Schmerzpunkte und Aufbruchssituationen hätten auch in seiner Generation noch ein starkes Echo. „Mit welcher Erfahrung man Teil einer Gesellschaft ist“, sagt Royale, „dazu muss man sich ins Verhältnis setzen. Das ist eine Frage, die man sich nicht aussucht.“

Was ihm an seinem Interims-Wirkungsort schnell auffiel: „Der milde, freundliche Umgangston. Auch wie die jüngeren Leute hier in einer postmigrantischen Selbstverständlichkeit miteinander reden und sich füreinander interessieren, macht mir Mut.“ Im Osten und in Berlin herrsche oft ein ruppiger Ton, der ihm nicht gefalle, aber „in seiner Direktheit eine gewisse Unkorrumpierbarkeit hat“. Der „schwäbisch-protestantischen Selbstbescheidenheit und Verknappung“ könne er aber einiges abgewinnen.

Eine Frage des Müßiggangs

Mit einem definierten Programm ist Royale nicht an sein Stadtschreibertum herangegangen, das unter dem etwas sperrigen – nicht von ihm gewählten – Motto „Neue Gemeinschaften /Digitale Narrative“ steht. Er habe sich das eine oder andere vorgenommen gehabt. Manches habe sich zerschlagen, anderes sich als weniger interessant erwiesen als gedacht. Dafür hätten sich neue Türen aufgetan. „Dass ich produktiv werde, ist bei mir auch eine Müßiggang-Frage, auch wenn’s ein bisschen verrückt klingt.“ Der Ertrag kommt, wenn er ihn nicht forcieren muss: „Mir ist es wichtig, dass manches erst mal im Schweigen bleibt. Dass ich es mir notiere, es aber nicht sofort verplappert wird.“

Der Stadtschreiber unterhielt sich mit Menschen, forschte in Archiven, fuhr Riesenrad, besuchte Konzerte, war mit Bussen, Bahnen und zu Fuß unterwegs. Er aß in Imbissen und Restaurants, erfuhr spannende Gastarbeiter- und andere Geschichten. Manche Geschichte brachte er auch mit und vertiefte sie: etwa diejenige seines Freundes Dietrich Kuhlbrodt. Der Autor, Schauspieler und Jurist war in den 1960-er Jahren als junger Staatsanwalt bei der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen tätig. In einer Zeit also, in der diese Institution in Ludwigsburg vielen als Nestbeschmutzerin und Schandfleck galt. Den Staatsanwälten das Leben und die Arbeit schwer zu machen, galt als gesellschaftsfähig. Als es 1966 in Ludwigsburg ein riesiges Staatsbegräbnis für den einstigen SS-General Josef Dietrich gab, zu dem Ex-Waffen-SS-Angehörige aus ganz Europa anreisten, drohten Dietrichs ehemalige Gefolgsleute den Juristen gar: „Wir kriegen euch noch.“ Fast unglaubliche Ereignisse hat Royale aus dieser Zeit zusammengetragen – und noch einen alten „Panorama“-Beitrag über das Begräbnis gefunden.

Wie er all diese Trouvaillen, Recherchen und Impressionen in ein finales Werk gegossen hat, zeigt Tucké Royale zum Abschied von seiner Stadtschreiber-Zeit am Sonntag. Selbst Ludwigsburger dürften Ludwigsburg dann ganz neu kennenlernen.

Preisgekrönter Künstler mit vielen Facetten

Der Stadtschreiber
 Tucké Royale wurde 1984 in Quedlinburg geboren. Er studierte Judaistik an der Freien Universität Berlin und Puppenspielkunst an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Royale lebt in Berlin und arbeitet als Autor, Regisseur, Musiker und Schauspieler. 2015 gründete er den „Zentralrat der Asozialen“, der für das Gedenken der von den Nazis verfolgten und ermordeten sogenannten „Asozialen“ eintritt. Er gehörte 2021 zu den Unterzeichnern des Manifests #ActOut, in dem Schauspielinnen und Schauspieler, die sich als lesbisch, schwul, bi, trans, queer, inter oder non-binär identifizierten, an die Öffentlichkeit gingen. Der von Tucké Royale geschriebene queere Heimatfilm „Neubau“, in dem er selbst die Hauptrolle spielte, gewann 2020 den 41. Max-Ophüls-Preis.

Das Ludwigsburg-Werk
Das Werk, das aus den Eindrückendes Royales als Ludwigsburger Stadtschreiber im vergangenen halben Jahr entstanden ist, präsentieren vier Studierende der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg am Sonntag, 23. Oktober, bei einer performativen Lesung. Beginn ist um 18 Uhr im Kunstzentrum Karlskaserne, Reithalle, Hindenburgstraße 29.