Während in den oberen Etagen des sechstöckigen Fachwerkhauses die Handwerker die dringend notwendige Generalsanierung vorantreiben, wird im Untergrund experimentiert, uraufgeführt und stückentwickelt. Mal gelingt es, mal liegt es genau daneben. Die Lust auszuprobieren ist groß und wird nicht geschmälert von der Angst, den hohen Ansprüchen nicht gerecht zu werden.
Peer Ripberger ist der Mann fürs Kreative, Dieter Ripberger ist der Mann für die Zahlen
Selbstbewusst formulieren Peer und Dieter Ripberger ihre Visionen und ergänzen einander wie die zwei Hälften einer Gussform. Vereint schaffen sie etwas Neues. Peer Ripberger, 31, Regisseur und künstlerischer Leiter, ist der Mann fürs Kreative. Er nennt die Schauspieler des fünfköpfigen Ensembles Performer und will Theater machen, das sich abgrenzt durch eine andere Erzählweise, eine gebrochene, eine, die provoziert und die Grenzen der Ästhetik auslotet. Er sagt Sätze wie: „Wenn ich mich berieseln lassen oder eine Illusion will, dann bin ich bei Netflix richtig. Wenn ich eine Auseinandersetzung mit meiner eigenen Wahrnehmungsweise oder meinen Sehgewohnheiten haben will, dann ist man hier bei uns richtig.“
Sein Gegenpart ist der Mann für die Zahlen: Dieter Ripberger, 32, einst Kulturmanager und Betriebsdirektor am Theater Lindau, in der Marketingabteilung des Hamburger Thalia-Theaters auch fürs Fundraising zuständig. Als Geschäftsführer in Tübingen hat er gleich ordentlich Drittmittel eingeworben – und mit Zusagen über 115 000 Euro den künstlerischen Etat des kleinen Stadttheaters fast verdoppelt. Der waschechte Schwabe, geboren in Schwäbisch Gmünd, jongliert gerne mit Prozenten, Statistiken und Bilanzen. Gerade mal zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung besuchten noch regelmäßig das Theater. „Da müssen wir aufpassen, dass der Zug nicht abfährt“, warnt Dieter Ripberger und weiß, dass angesichts des immensen Kulturangebots in Tübingen ein scharfes Profil umso wichtiger ist. Zumal mit dem Landestheater um die Ecke ein etablierter Kulturbetrieb mit viel mehr Produktionen und jeder Menge Platz Publikum bindet. Doch die Auslastung des ersten halben Jahres kann sich sehen lassen, sie liegt bei fast 80 Prozent. „Es läuft richtig gut“, resümiert Dieter Ripberger, „wir erreichen die Jungen – und zum Glück auch die Älteren.“ Das Zeitgenössische gefällt den Tübingern.
Ein bisschen wie geklont sehen die beiden Intendanten aus
Ein bisschen wie geklont kommt das Intendantenduo rüber, optisch auf jeden Fall. Ob es daran liegt, dass beide ausschließlich Schwarz tragen und sich praktischerweise eine gut gefüllte Sockenschublade teilen? Vielleicht ist es der fast identische Bart, die schmale Brille, die Kurzhaarfrisur, der ähnliche Kleidungsstil. Einer raucht – und würde gerne damit aufhören, der andere nicht. Einer trägt Tattoos – und zeigt sie auch freimütig, der andere nicht. Zur Eröffnungspremiere hat sich Peer Ripberger ein sechseckiges Muster auf den Hinterkopf stechen lassen, passend zum Waben-Bühnenbild seiner ersten Inszenierung in Tübingen. Das Stück „Der bleierne Lauf der Geschichte ist ein Arschloch. Aufbruch nach Utopia“ hat als Textcollage und futuristische Montage zum Spielzeitauftakt polarisiert. Nie wieder, ärgerten sich die einen. Endlich, freuten sich die anderen.
Auf der Terrasse des Zimmertheaters mit Blick auf den Hölderlin-Turm sitzt das Intendanten- Tandem bei Espresso und Zigarette und reflektiert den theatralen Aufbruch nach Utopia. Die Ripbergers sind im Glück, ihr Haus ist offen für Dialoge und Debatten, es ist offen für Gäste, die verteilt auf den oberen Etagen wohnen und während der Produktionen gleich für ein paar Monate bleiben. Alle paar Minuten öffnet sich die Tür vom Foyer zur Terrasse: Die Schneiderin schaut vorbei, eine Bühnenausstatterin beugt sich über Unterlagen. Martin Borros vom ungarischen Theaterkollektiv Stereo Akt packt seinen Laptop aus. Er schwärmt vom Tübinger Nachtleben und den Bürgern, die bereitwillig im Projekt European Freaks auf die Bühne gekommen sind. Alles auf Englisch, alles schön zum Mitmachen, die Schranke zwischen Zuschauern und Darstellern ist demontiert, Theater in seiner niederschwelligsten Form.
Die Beschränktheit der Spielstätte als Chance
Zufrieden führen die Hausherren durchs Gebäude. Im Keller probt das Künstlerkollektiv Monster Control District, im Gewölbe daneben schraubt ein Techniker an der nagelneuen Ausstattung. „Es bestand Lebensgefahr“, erzählt Dieter Ripberger, so veraltet sei die Elektrik gewesen. Für die Bühnenausstattung hat die Stadt einen Sonderzuschuss über 400 000 Euro spendiert. Die Beschränktheit der Spielstätten, die Enge sieht Peer Ripberger als Chance. „Ich finde die Räume super“, sagt er, „man ist nah dran am Geschehen, es entsteht eine große Intimität, das ist toll für unsere Art von Theater.“
Eines der kleinsten Stadttheater der Republik
Das Zimmertheater ist aus der freien Theatergruppe Thespiskarren hervorgegangen. Von der Trappschen Apotheke zog es rasch um in die Bursagasse und feierte inzwischen seinen 60. Geburtstag. Es ist eines der kleinsten Stadttheater der Republik und seit 2019 Mitglied im Deutschen Bühnenverein. Als gemeinnützige GmbH in überwiegend städtischer Trägerschaft organisiert, erhält die kleine Altstadtbühne an der Neckarfront institutionelle Zuwendungen von Stadt, Land und Landkreis. Bald zwei Dutzend Intendantinnen und Intendanten haben das Theater seit seiner Gründung geleitet. Eine Doppelspitze gab es zuletzt 2007, als Christian Schäfer und Axel Krauße übernahmen. Sie kehrten beide zu einem festen Ensemble zurück. Von 2013 an leitete Krauße das Haus alleinverantwortlich. Seit der Spielzeit 2018/2019 stehen Peer und Dieter Ripberger an der Spitze.