Die türkische Justiz geht massiv gegen Gegner des Syrien-Feldzugs vor – so auch gegen Führungspersonen der türkischen Ärztekammer, die vor den physischen und psychischen Folgen des Militäreinsatzes warnten. Die Mediziner sitzen nun in Haft.

Istanbul - Die türkische Armee rückt in Nordsyrien vor, um dort die Ordnung wiederherzustellen und kurdische Terroristen in die Flucht zu schlagen – das ist das Bild, das die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan vom Feldzug in Afrin zeichnet. Die meisten Medien im Land verbreiten die Regierungsversion, Widerspruch wird nicht geduldet. Wer Zweifel am Sinn der Intervention äußert, riskiert eine Haftstrafe. Das zeigte sich am Dienstagmorgen.

 

Am diesem Tag holte die Antiterrorpolizei den Chef der türkischen Ärztekammer, Rasit Tükel, und zehn weitere Funktionäre des Verbandes aus dem Bett und steckte sie ins Gefängnis: Die Kammer hatte in einer Erklärung den Krieg kritisiert.   Krieg richte physische, psychische, soziale und ökologische Schäden an und sei „ein Problem für die öffentliche Gesundheit“, hieß es in der Erklärung der Ärztekammer TTB am Mittwoch vergangener Woche. Der hippokratische Eid zwinge die Mitglieder des Berufsstandes zum Einsatz gegen den Krieg, heißt es weiter. „Nein zum Krieg, Frieden sofort“, forderte die TTB, die größte Vertretung der rund 80 000 Ärzte in der Türkei.  

Erdogan und die türkische Justiz werteten den TTB-Appell als Beweis für eine Unterstützung kurdischer Terroristen durch den Verband. Der Präsident nannte die Ärzte eine „Bande von Sklaven“ und „Diener des Imperialismus“, die Staatsanwaltschaft leitete Ermittlungen ein. Mit der Erklärung verbreite die TTB staatsfeindliche Propaganda, lautet das Argument: Da sich der Feldzug in Syrien gegen die Kurdenmiliz YPG richtet, den syrischen Ableger der Terrorgruppe PKK, ist aus Sicht der Regierung jede Kritik am Krieg gleichbedeutend mit Landesverrat.  

Bürger denunzieren sich gegenseitig

Am Dienstag wurde auch der Anführer der islamischen Furkan-Stiftung, Alparslan Kuytul, mit 20 Mitgliedern der Organisation festgenommen. Kuytul hatte die Afrin-Intervention vor einigen Tagen als „Schauveranstaltung“ der Regierung angeprangert.  Mit dem Krieg wird die seit dem Putschversuch von 2016 stark beschnittene Meinungsfreiheit weiter eingeschränkt. Seit Beginn der Intervention in Afrin am 20. Januar sind mehr als 300 Menschen wegen angeblicher Propaganda für den kurdischen Kriegsgegner in Haft genommen worden. Das Staatsfernsehen TRT nahm eine Moderatorin vom Sender, die versehentlich von Bombenangriffen der türkischen Armee auf Zivilisten in Afrin gesprochen hatte. Gegen sie wurde eine Untersuchung eingeleitet.

  Mehr als acht von zehn Türken unterstützen laut einer Umfrage die Intervention, nur elf Prozent sehen den Krieg kritisch. Als stärkste Oppositionspartei stellte sich auch die säkulare CHP hinter den Feldzug. Gleichzeitig wirft CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu der Regierung jedoch vor, den Krieg als Vorwand zu benutzen, um Dissens zu unterdrücken.

In der aufgeheizten Stimmung breitet sich das Denunziantentum aus. In Ankara wurde eine Frau festgenommen, die auf einer Busfahrt gegenüber ihrem Sitznachbarn abfällige Bemerkungen über Erdogan gemacht haben soll. Ein Mitreisender zeigte die Frau bei der Polizei an.