In der Türkei und Frankreich herrschen keineswegs gleiche Verhältnisse – trotz Ausnahmezustand hier wie dort. Erdogan setzt sich über rechtliche Hemmnisse hinweg.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - Recep Tayyip Erdogan fühlt sich wie Francois Hollande. Auch der habe wegen der Terrorattacken den Ausnahmezustand ausgerufen. Wer dazu schweige, habe „definitiv nicht das Recht, die Türkei zu kritisieren“, sagt der Staatspräsident in Ankara. Doch der Vergleich mit Frankreich entspricht nicht den realen Verhältnissen in beiden Staaten. Was heißt Ausnahmezustand? Juristen und Staatsrechtler sprechen von einer „Verfassungsanomalie“. Auch für Rechtsstaaten sind Situationen denkbar, in denen Maßnahmen ergriffen werden müssen, die das, „was sie schützen sollen, eben um es zu schützen, angreifen müssen“. So formulierte es Heinrich Triepel, Gründer der Vereinigung Deutscher Staatsrechtslehrer. Als Sondersituationen wären Katastrophen, Krieg oder innere Unruhen denkbar. In der römischen Republik hieß dieser Ausnahmezustand „Diktatur“. So ist auch das erste umfassende Werk zum Wesen des Ausnahmezustands betitelt. Es stammt aus der Feder von Carl Schmitt.

 

Ist das legal? Die türkische Verfassung von 1982 benennt konkrete Umstände, unter denen die Regeln der parlamentarischen Demokratie eingeschränkt werden können. Der so genannte Notstand kann verhängt werden bei „ernsthaften Anzeichen für sich ausbreitende Gewalthandlungen, die auf eine Aufhebung der durch die Verfassung begründeten freiheitlichen demokratischen Ordnung zielen“. Auch wenn „die öffentliche Ordnung ernsthaft gestört“ wird, wäre ein Anlass für den Notstand gegeben. So steht es in Artikel 120 der Verfassung. Das Kabinett kann dann unter Vorsitz des Staatspräsidenten für maximal sechs Monate den Ausnahmezustand erklären. Damit sind Ausgangssperren, Medienzensur, Versammlungsverbote und Razzien möglich. Erdogan & Co dürfen mit Dekreten regieren, die anders als Gesetze nicht vor dem Verfassungsgericht anfechtbar sind. Gleiche Lage in Paris und Ankara? In Frankreich ermöglicht ein Gesetz aus der Zeit des Algerienkriegs den Ausnahmezustand („état d’urgence“). Der Präsident kann ihn zunächst für zwölf Tage verhängen, sofern „eine unmittelbare Gefahr durch schwere Bedrohungen der öffentlichen Ordnung“ vorliegt. Für Verlängerungen ist das Parlament zuständig. Der Regierung werden damit „außergewöhnliche Befugnisse“ eingeräumt. Sie kann Ausgangssperren anordnen, öffentliche Versammlungen verbieten, Verdächtige unter Hausarrest stellen, Waffen beschlagnahmen und ohne richterlichen Beschluss Wohnungen durchsuchen lassen. Seit 1955 wurde der Ausnahmezustand dreimal verhängt, 1985 und 2005 nach politischen Unruhen sowie im Anschluss an die Terroranschläge am 13. November 2015 . Nach Presseberichten stehen aktuell 77 Personen unter Hausarrest. Bis Ende Mai gab es insgesamt 3600 Hausdurchsuchungen.

In der Türkei ist der Ausnahmezustand fast schon der Normalfall. Nach türkischen Medienberichten stand das Land seit Gründung der Republik fast die Hälfte der Zeit unter Ausnahmeverwaltung. Nach dem Militärputsch 1980 verhängte der Generalstab für mehrere Jahre das Kriegsrecht. Als Reaktion auf den Putschversuch vor einer Woche ließ Präsident Erdogan tausende Menschen verhaften, Richter absetzen, Lehrer entlassen und Zeitungsredaktionen besetzen – ohne rechtliche Grundlage. Der Ausnahmezustand wurde erst fünf Tage später angeordnet. Er bietet auch keine Handhabe für Erdogans Vorgehen, da er zum Beispiel keineswegs die Gewaltenteilung außer Kraft setzt. Eingriffe im Hoheitsbereich der Justiz sind deshalb ungesetzlich. Was bedeutet Kriegsrecht? Im Kriegszustand sind noch weitergehende Eingriffe in bürgerliche Rechte und politische Entscheidungen möglich. In der Türkei regelt das der Verfassungsartikel 122. Kriegsrecht könnte auch im Falle eines Aufstandes angeordnet werden oder von „gewaltsamen Aktionen gegen das Vaterland oder Gewalthandlungen, welche von innen oder außen die Unteilbarkeit des Landes in Gefahr bringen“.

Gibt es das auch in Deutschland? Im Grundgesetz war ursprünglich kein Notstandsrecht vorgesehen. Unter dem Eindruck der Studentenunruhen hat die Große Koalition 1968 Notstandsgesetze beschlossen. Wenn die freiheitliche demokratische Grundordnung gefährdet sein sollte, kann der Bund Landesregierungen Weisungen erteilen und Soldaten gegen Aufständische einsetzen. Grundrechte können nur im Kriegsfall eingeschränkt werden.