Fast zwei Drittel der Wähler haben für eine konservative oder nationalistische Partei gestimmt. Wohin steuert die Türkei nun?

Istanbul/Ankara - Die Prognose eines Erdogan-treuen Zeitungskolumnisten hat sich bewahrheitet: „Wenn der Chef die Wahl verlieren könnte, hätte er sie nicht angesetzt.“ Mag der Dauerherrscher zuletzt auf Veranstaltungen müde und ausgebrannt gewirkt haben, nach den Wahlen am Sonntag ist er auf dem Zenit seiner Macht angekommen. Das Präsidialsystem, das nun in Kraft tritt, verleiht Recep Tayyip Erdogan quasi-diktatorische Machtfülle in der Türkei. Der 64-Jährige ist Staats- und Regierungschef zugleich, kann die Verfassungsrichter bestimmen und damit die Gewaltenteilung ad absurdum führen. So hat der gewiefte Machtpolitiker die Demokratie mit den Mitteln der Demokratie geschleift.

 

Es steht zwar außer Frage, dass Erdogan bei rund der Hälfte der Türken so beliebt ist, dass sie ihm fast blind folgen. Aber die „schweigende Mehrheit“ aus dem anatolischen Hinterland wählt den „Chef“ aus vielen Gründen: weil er den Islam wieder gestärkt hat, weil er ihnen ein Gefühl von Respekt gibt oder schlicht, weil sie wegen der vielen Wohltaten wirtschaftlich profitiert oder abhängig ist. Auch wenn die Wahlergebnisse zum Teil manipuliert sein mögen – dass Erdogan bei der Präsidentschaftswahl mit knapp 53 Prozent deutlich besser abschnitt als seine islamistische AKP (42 Prozent) bei der Parlamentswahl, zeigt, wie ungebrochen seine Popularität ist.

Überraschungserfolg für die MHP

Dass die Opposition entgegen allen Prognosen nicht die Parlamentsmehrheit erringen konnte, liegt am unerwarteten Erfolg der rechtsextremen, mit Erdogan verbündeten MHP, die trotz ihrer Spaltung und fast ohne Wahlkampf mit 11,2 Prozent fast genauso gut abgeschnitten hat wie bei der letzten Wahl. Insgesamt erlebte das Land einen Rechtsruck: Fast zwei von drei Wählern in der Türkei haben eine konservative oder nationalistische Partei gewählt. Im Parlament ist Erdogan nun auf die Unterstützung der Rechtsnationalisten angewiesen. Der MHP-Parteichef Devlet Bahceli machte bereits klar, dass er seine Partei nicht als bloßen Erfüllungsgehilfen Erdogans sieht. Damit habe Erdogan sein Idealziel nicht erreicht, sagt Kerem Oktem von der der Universität Graz unserer Zeitung. Die Rolle der MHP sei für ihn ein „Kratzer am Bild“, so der Türkei-Experte. Er sprach von einer „de-facto-Koalition“ zwischen AKP und MHP. Wie sehr Erdogan die MHP unter den Regeln des neuen Präsidialsystems braucht, ist noch ungewiss.

Aykan Erdemir von der Denkfabrik FDD in Washington erwartet einen relativ starken Einfluss der MHP auf die Politik Erdogans. Der Präsident werde in der Innen- wie in der Außenpolitik Zugeständnisse an die Ultranationalisten machen müssen, sagte Erdemir. Eine Rückkehr zum Friedensprozess in der Kurdenfrage sei mit der MHP unmöglich. Erdemir rechnet mit einer Intensivierung türkischer Militäreinsätze gegen kurdische Rebellen in Syrien und im Irak.

Dies wiederum lässt auf eine engere Zusammenarbeit mit Russland schließen und eine weitere Entfremdung der Türkei vom Westen. Mit seinem russischen Kollegen Wladimir Putin kommt Erdogan ohnehin glänzend zurecht – Kritiker sprechen von der Verbundenheit zweier Männer mit autokratischen Tendenzen. Putin lobte Erdogan am Montag für dessen „große politische Autorität“. Künftig dürfte die Türkei noch selbstbewusster ihre Großmachtansprüche vertreten.

Oppositionspartei CHP ist für Konservative nicht wählbar

Die türkische Journalistin Ceren Kenar wies auf Twitter darauf hin, dass der Rechtsdrall der türkischen Politik nicht erst mit der Wahl begonnen hat. Erdogan habe die Türkei nicht islamistischer, sondern nationalistischer gemacht, wie Kenar anmerkte. Auch der Putschversuch im Juli 2016 sowie die Konflikte und Krisen in den Nachbarländern Syrien und Irak haben eine Rolle gespielt, meint sie.

Zudem ist die säkulare Oppositionspartei CHP, deren Präsidentschaftskandidat Muharrem Ince mit einem beherzten Wahlkampf für Schlagzeilen gesorgt hatte, für viele konservative Türken schlicht unwählbar, wie Kenar betonte: Die CHP steht bei diesen Wählern für die Diskriminierung der frommen Muslime in der Zeit vor Erdogans Regierungsübernahme vor anderthalb Jahrzehnten. Ince gab sich alle Mühe, die CHP als gesamt-türkische Kraft zu präsentieren, musste sich am Ende aber mit knapp 31 Prozent zufriedengeben.

Während Erdogan die Glückwünsche von Politikern innerhalb und außerhalb der Türkei entgegennahm, begannen bei der Opposition die politischen Aufräumarbeiten. Erdogans Gegner waren im Wahlkampf erheblich behindert worden; einer der Präsidentschaftskandidaten sitzt im Gefängnis. Meldungen über angebliche Manipulationen am Wahltag selbst bestätigten sich aber nicht – die Opposition musste Beschwerden kleinlaut wieder zurücknehmen. Ince räumte am Montag auch seine Niederlage ein. An Erdogan richtete der Oppositionspolitiker noch den Appell, der Staatschef solle endlich der Präsident aller Türken sein – und nicht nur der Chef der AKP-Wähler.