Ein Jahr saß Deniz Yücel in türkischer Untersuchungshaft. Im Februar 2018 wurde er entlassen und durfte ausreisen. Doch in Istanbul geht der Prozess wegen Terrorvorwürfen weiter - sein Anwalt spricht von einer „juristischen Katastrophe“.

Istanbul - Der Prozess gegen den „Welt“-Reporter Deniz Yücel in der Türkei wegen Terrorvorwürfen und Volksverhetzung ist überraschend vertagt worden. Zur Begründung sagten die Richter am Mittwoch in Istanbul, sie wollten das Abschlussplädoyer der Verteidigung bewerten. Eigentlich war ein Urteil erwartet worden. Nächster Verhandlungstag ist der 16. Juli.

 

Yücels Anwalt, Vesyel Ok, kritisierte die Staatsanwaltschaft am Mittwoch scharf, weil diese bei ihrem Plädoyer im Februar nicht auf ein Urteil des Verfassungsgerichts zum Fall Yücel eingegangen sei. Sie habe das Urteil „entweder wissentlich ignoriert oder es ist ihr nicht bekannt“, sagte Ok. Man habe es mit einer „juristischen Katastrophe“ zu tun.

Das türkische Verfassungsgericht hatte im Juni 2019 Yücels einjährige Untersuchungshaft für rechtswidrig erklärt. Es hatte unter anderem entschieden, dass Yücels Recht auf Meinungs- und Pressefreiheit verletzt worden sei.

Die Staatsanwaltschaft fordert wegen angeblicher Propaganda Yücels für die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK und Volksverhetzung bis zu 16 Jahre Haft. Für einen weiteren Anklagepunkt, der Terrorpropaganda für die Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, verlangt auch die Staatsanwaltschaft inzwischen Freispruch.

Yücel war von Februar 2017 bis Februar 2018 ohne Anklageschrift im Hochsicherheitsgefängnis Silivri westlich von Istanbul inhaftiert gewesen. Mit seiner Entlassung und der Ausreise nach Deutschland war damals Anklage erhoben worden. Der Fall hatte die deutsch-türkischen Beziehungen schwer belastet.

Gericht bemängelt teils fehlerhafte Übersetzung von Yücels Artikeln

Hintergrund der Anschuldigen gegen Yücel sind unter anderem Artikel, die der Journalist in seiner Zeit als Türkei-Korrespondent in der „Welt“ veröffentlicht hatte. Darunter ist ein Interview mit dem PKK-Kommandeur Cemil Bayik. Die Staatsanwaltschaft warf Yücel in dem Zusammenhang vor, die PKK als „legitime und politische Organisation“ darzustellen.

Das türkische Verfassungsgericht hatte vor einem Jahr zum Interview mit Bayik erklärt, Yücel könne nicht für dessen Aussagen verantwortlich gemacht werden. Das Interview könne ihm nicht als Terrorpropaganda ausgelegt werden. Das Gericht bemängelte auch, dass Yücels Artikel in der „Welt“ teilweise fehlerhaft übersetzt worden seien.

Nach Angaben der Organisation P24, die sich für Pressefreiheit in der Türkei einsetzt, sind derzeit mehr als 100 Journalisten und Mitarbeiter von Medien im Land inhaftiert. Am Mittwoch begann auch der Prozess gegen sieben türkische Journalisten und einen weiteren Angeklagten. Ihnen wird laut Anklageschrift unter anderem Enthüllung von Geheimdienstaktivitäten vorgeworfen. Hintergrund der Vorwürfe sind unter anderem Artikel über einen in Libyen getöteten Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes MIT.n