Menschenrechtler von Human Rights Watch erheben schwere Vorwürfe gegenüber der türkischen Regierung. Diese habe Richter abgesetzt, aber keine Hinweise für deren Teilhabe am Putschversuch. Derweil werden auch Größen der AK-Partei angeklagt.

Ankara - Die renommierte Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hat schwere Vorwürfe gegen die Türkei im Zusammenhang mit den sogenannten Säuberungen nach dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli erhoben. Am Freitag veröffentlichte HRW in Istanbul eine Erklärung zu 1684 verhafteten Richtern und Staatsanwälten, die in den versuchten Staatsstreich verwickelt gewesen sein sollen. In allen Fällen, die HRW untersucht habe, seien die Juristen allein aufgrund der Tatsache in Untersuchungshaft genommen worden, dass ihre Namen auf einer Verdächtigenliste standen, doch seien keine Beweise für die ihnen zur Last gelegten Verbrechen vorgelegt worden, heißt es darin.

 

„Richter ohne auch nur die Vortäuschung rechtlichen Gehörs einzusperren wird das türkische Justizsystem für Jahre schwer beschädigen“, erklärte die HRW-Türkei-Direktorin Emma Sinclair-Webb am Freitag. Internationale Menschenrechtsgesetze verlangten als absolute Minimalvoraussetzung für die Verhängung von Untersuchungshaft ausreichende Beweise für den „vernünftigen Verdacht auf ein Vergehen“, keinesfalls aber „allgemeine und abstrakte“ Gründe. „Berechtigte Bedenken über politisierte Entscheidungen der türkischen Gerichte können nicht mit einer Hexenjagd auf Richter und Staatsanwälte gelöst werden.“

Vergleich mit Freimaurern und Illuminaten

Die verhafteten Juristen sollen der Bewegung des in den USA lebenden Islampredigers Fethullah Gülen nahestehen, den der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan für den blutigen Putschversuch verantwortlich macht. Vertreter der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP vergleichen die sogenannte Fethullaistische Terrororganisation (FETÖ) mittlerweile mit den Freimaurern oder Illuminaten. Laut HRW seien die beschuldigten Richter nicht nach einer Beteiligung am Putschversuch, sondern nach ihrer Verbindung zur Gülen-Bewegung befragt worden. HRW weist darauf hin, dass auch zahlreiche Anwälte verhaftet worden seien. Viele Juristen lehnen nun ab, Putschverdächtige zu vertreten, aus Angst, dann selbst unter Verdacht zu geraten.

Zudem wurde das Vermögen aller 3048 vom Dienst suspendierten Richter und Staatsanwälte per Gerichtsbeschluss vom 31. Juli eingefroren. Insgesamt wurden in der Türkei laut offiziellen Angaben mehr als 10 000 Menschen verhaftet und mehr als 60 000 vom Staatsdienst suspendiert. Bereits kurz nach dem gescheiterten Putsch hatte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International auf offensichtliche Misshandlungen von festgenommenen Offizieren im Polizeigewahrsam hingewiesen. Bis heute fehlt laut Amnesty von einigen verhafteten Militärs jede Spur.

Die Regierung in Ankara wies die Vorwürfe scharf zurück und ließ den Twitter-Account des zuständigen Amnesty-Rechercheurs Andrew Gardner sperren. Regierungsnahe Zeitungen bezichtigen die Menschenrechtsorganisation inzwischen offen, Komplize der Verschwörer zu sein. Am Freitag veröffentlichte die Erdogan-treue Zeitung „Yeni Safak“ einen Bericht mit dem Titel „Amnesty International sammelt Geld für die türkischen Putschisten“, wonach die Organisation ihre Mitglieder in Österreich auffordere, Geld für die Verteidigung der Verschwörer zu spenden.

Ex-Gouverneur von Istanbul verhaftet

Ein Sprecher von Amnesty sagte dieser Zeitung, es handele sich um einen normalen Spendensammelbrief, da die Organisation keine staatlichen Gelder erhalte und auf Privatspenden angewiesen sei. „Leider wird dieser Umstand von den Medien in der Türkei manipuliert, um unsere Arbeit zu diskreditieren. Wir werden aber unsere Arbeit für die Häftlinge fortsetzen und sind auch mit den türkischen Behörden im Dialog.“

Unterdessen haben die „Säuberungen“ in der Türkei auch die politische Ebene erreicht. Hüseyin Mutlu, AKP-Politiker und wegen seiner brutalen Niederschlagung der Gezi-Revolte 2013 berüchtigter Ex-Gouverneur von Istanbul, wurde in der Nacht zum Freitag ebenso verhaftet wie sieben Provinzgouverneure, ein Vizegouverneur und drei Distriktgouverneure. Den Verdächtigen werde FETÖ-Mitgliedschaft vorgeworfen, meldete die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu.

Mutlu wies die Vorwürfe zurück. „Ich weigere mich, an der Seite von Putschisten vor Gericht gestellt zu werden“, sagte er. Mutlu war zuletzt im Innenministerium in Ankara tätig. Die AKP hat am Freitag ein Rundschreiben veröffentlich, mit dem sie ihre Büros und Stadtverwaltungen im gesamten Land anweist, Angestellte mit FETÖ-Verbindungen „schnell und sorgfältig auszusortieren“. Immerhin hatte die Partei mehr als ein Jahrzehnt eng mit den Gülenisten zusammengearbeitet. Viele Jahre hätten FETÖ-Mitglieder auch in der AKP-Führung mitgearbeitet, hätten Abgeordnete und sogar Minister gestellt, sagte Vizepremier Numan Kurtulmus kürzlich. „Genauso wie alle staatlichen Stellen von ihnen gesäubert werden, muss das auch in der AKP getan werden.“

Erste Hinweise, um wen es sich handeln könne, gibt die Klage eines Rechtsanwalts gegen vier frühere Minister. Sie richtet sich unter anderem gegen den AKP-Mitgründer und früheren Vizepremier Bülent Arinc.