Am Bosporus nehmen Überfremdungsängste deutlich zu. Die Opposition versucht aus dem Stimmungswechsel Kapital zu schlagen.

Istanbul - Arabische Gesänge schallen über den Bosporus, wenn abends in Istanbul die Ausflugsboote losfahren. „Man glaubt gar nicht mehr, dass man in Istanbul ist“, schimpft eine türkische Einwohnerin der Metropole. An den Ufern spazieren Familien aus der Golf-Region, auf den Einkaufsstraßen wird Arabisch gesprochen, an den Kreuzungen betteln syrische Flüchtlingskinder. Während des islamischen Opferfestes in den vergangenen Tagen war der Andrang der Araber besonders spürbar. Für viele Türken wurde das Fest zu einem Wendepunkt, wie ihn die Deutschen in der Kölner Silvesternacht 2015 erlebten: Die Stimmung gegen Araber schlägt in offene Feindseligkeit um.

 

Die Ausländerfeindlichkeit richtet sich nicht nur gegen arabische Touristen und die 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge, sondern auch gegen reiche Zuwanderer aus Nahost, die sich mit einem Immobilienkauf türkische Pässe sichern. Eine Investition von 250 000 Dollar genügt, um die türkische Staatsbürgerschaft zu erwerben – für sich und die Familie. Viele Interessenten aus politisch instabilen oder repressiven Nahost-Ländern nehmen das Angebot dankbar an. Iraker, Iraner und Saudis sind die führenden ausländischen Käufer von Immobilien in der Türkei.

Überfremdungsängste brechen sich Bahn

Vorurteile und Gerüchte über die Araber gleichen denen in Europa. „Die bieten 14-jährige Mädchen als Prostituierte feil“, entrüstet sich ein Ladeninhaber an der Einkaufsmeile Istiklal Caddesi im Zentrum von Istanbul. Im Internet kursieren Videos, in denen angeblich arabische Badegäste am Strand lauthals „Gott ist groß“ skandieren.

Überfremdungsängste brechen sich Bahn. In einigen Städten an der türkischen Grenze zu Syrien leben inzwischen mehr Syrer als Türken. Alteingesessene Istanbuler berichten, dass sie sich wie Fremde in der eigenen Stadt fühlen – wegen der Touristen, der vielen Wasserpfeifen-Cafés, und weil es in einigen Stadtteilen mehr arabische Ladenschilder gibt als türkische. Schätzungsweise zwei Millionen Araber, davon etwa eine Million Syrer, leben laut lokalen Medienberichten in der 16-Millionen-Metropole. Manche Taxifahrer weigern sich, arabisch aussehende Kunden mitzunehmen.

Er könne die Ausländerdiskussion in der EU jetzt besser verstehen, sagt ein türkischer Akademiker, der einige Jahre in Europa verbracht hat. Auf Twitter machen erboste Türken unter dem Hashtag #GitmeVaktinizGeldi (Zeit, dass ihr geht) ihrer Wut über Araber Luft. Eine regierungsnahe Fernsehkommentatorin, die für die rasche Einbürgerung der Flüchtlinge plädiert, wird als „arabische Lesbe“ beschimpft.

„Es reicht nicht, die Hilfen zu streichen. Sie sollen verschwinden.“

Die Opposition hat das Thema für sich entdeckt. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, Chef der kemalistischen Partei CHP, fordert die Rückführung der syrischen Flüchtlinge in ihre Heimat und spricht wegen der steigenden Zahl von Flüchtlingen aus Afghanistan von einer „Schicksalsfrage“ für das Land. Tanju Özcan, ein Parteifreund von Kilicdaroglu und Bürgermeister der Stadt Bolu östlich von Istanbul, will Ausländer mit hohen Sondergebühren für Wasser und Abwasser aus der Stadt vertreiben. Es reiche nicht, den Ausländern städtische Hilfen zu streichen oder Geschäftsgründungen zu verweigern, so der Lokalpolitiker. „Sie sollen verschwinden.“

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Präsident Recep Tayyip Erdogan wurde von der Diskussion auf dem falschen Fuß erwischt. Jahrelang konnte sich der Präsident bei seiner „Politik der offenen Tür“ in Syrien auf die Toleranz der Türken für Flüchtlinge verlassen und die Aufnahme der Syrer als humanitäre Pflicht rechtfertigen. Den Stimmungswandel in der Bevölkerung hat Erdogan entweder verpasst oder nicht ernstgenommen. Das bietet Kritikern wie Kilicdaroglu jetzt Angriffsflächen. Erdogan solle doch seinen 1000-Zimmer-Palast in Ankara mit Afghanen füllen, sagte Kilicdaroglu in einem Video auf Twitter.

Der Oppositionschef nennt Erdogan eine „Marionette“ der Europäer. Der Präsident habe die Interessen des Landes im Flüchtlingsdeal von 2016 für sechs Milliarden Euro verkauft. Und auch als Bundeskanzlerin Angela Merkel jetzt weitere drei Milliarden für die Fortschreibung des Abkommens vorgeschlagen habe, um die Flüchtlinge von Europa fernzuhalten, sei von Erdogan kein Mucks gekommen, kritisierte Kilicdaroglu. EU-Pläne, die Türkei auch bei der Versorgung afghanischer Flüchtlinge zu unterstützen, sind aus seiner Sicht ein „neues Bestechungs-Paket“.

Als der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz noch mehr Öl ins Feuer goss, indem er die Türkei als richtigen Ort für afghanische Flüchtlinge bezeichnete, musste auch die türkische Regierung reagieren. Die Türkei sei kein Flüchtlingslager für Europa, erklärte ein Außenamtssprecher in Ankara.

Schutz für Flüchtlinge

Warnung
Der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Filippo Grandi, ist alarmiert über Verstöße gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. Europäische und andere Länder versuchten teils, sich ihren Verpflichtungen zu entziehen, sagte Grandi am 70. Jahrestag der Unterzeichnung der Konvention. „Die Konvention ist heute so relevant wie 1951“, sagte Grandi. Sie habe Millionen Menschen das Leben gerettet.

Ursachen
 Mehr Einsatz im Kampf gegen Fluchtursachen forderte der deutsche Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU): „Sonst werden wir auch in Europa noch stärker mit den dramatischen Konsequenzen der globalen Flüchtlingskrisen konfrontiert sein.“