Kultur: Tim Schleider (schl)

Macht und Terror sind hier nichts Exotisches, sondern sie sind historisch-real, also auch aktuell, durchziehen die Zeitläufte und die Albträume der Menschen bis zum heutigen Tag. Mit ihrem grausamen Rätselspiel ist die Prinzessin Turandot nur eine unter vielen – und das Volk ist vom blutigen Spektakel immer neuer Exekutionen verängstigt, aber auch berauscht. Der Terror erschrickt und fasziniert zugleich. Eine der überzeugendsten Lösungen, die der Regisseur Marelli für seine Erzählung findet, ist diese: Das, was den Prinzen Calaf von einem Moment zum nächsten in Liebe zu Turandot entbrennen lässt (während doch die weitaus nettere Sklavin Liù gleich neben ihm steht), das ist nicht Turandot als Wesen – sondern die Inszenierung ihrer Macht. Es ist die Faszination, der giftige Glanz der Willkür. Es ist das Spektakel. So wie sich uns ja auch dieser Abend an der Oberfläche präsentiert, als großes, buntes, knalliges Spektakel, bei dem man wie nebenbei zwei Stunden lang ganzen Reihen von Soldaten ungerührt beim Ersaufen zuschauen kann. Ganz schön schlau, dieser Marelli.

 

Das ist große Oper für Augen und Ohren, aber eben auch fürs Hirn. So, wie es Giacomo Puccini schon in seiner Musik angelegt hat, die mit ihrer Farbigkeit und Drastik den Wohlklang und die Üppigkeit auf der scharfen Schneide der Moderne balancierend immer wieder bis kurz vor den Abgrund führt. Der Dirigent Paolo Carignani und die Wiener Symphoniker spielen dies klar und strukturiert, gar nicht aufgeschäumt, auch bei den Lautstärken bleiben sie eher dezent.

Gesang, der ins Herz trifft

Musikalischer Star des Abends ist die aus China stammende Sopranistin Guanqun Yu als Sklavin Liù, die niemals gefühlig, sondern quälend exakt ihre Folterszene und ihren Opfertod durchsteht – Gesang, der direkt ins Herz trifft. Nein, sie verrät den Namen Calafs nicht, dieser verrät ihn Turandot im abschließenden großen Duett schon selbst. Anders als Yu sind Mlada Khudoley als Prinzessin und Riccardo Massi als Prinz die enormen Anstrengungen ihrer Partien immer wieder anzumerken. Am Ergebnis des großartigen Gesanges ändert das wenig. Und, ja, zum Auftakt des dritten Aktes ist auch „Nessun dorma“ fehlerfrei und bewegend zu erleben. Alles gut.

Puccinis Komposition endet beim Schicksalsduett. Er scheiterte am Schluss. Der Komponist wurde nicht fertig mit dem Problem, ob es tatsächlich denkbar ist, mittels Liebe den Teufelskreis von Macht und Terror zu durchbrechen. Marco Arturo Marelli treibt diese Ungewissheit in diesem Duett bis zum schmerzhaften Punkt – um dann fidel jenes Ende zu inszenieren, das der Komponist Franco Alfano zweifellos mit besten Absichten nach Puccinis Tod hinzufügte. Da wird es dann auch in Bregenz Friede, Freude, Glückskeks: Große Drachen tanzen, plötzlich sind alle Menschen weiß gekleidet, Wasserfontänen steigen, Lampions schweben zum Himmel. Das ist für eine Seebühnen-Produktion ein fulminanter Schlusspunkt. Aber Marelli treibt es derart dicke, dass allen klar sein müsste: mit dem, was Puccini in seiner Oper zuvor beschäftigte, hat all das nur bedingt zu tun. Das ist ein anderes Theater. Es tut nur so. Riesenbeifall am Ende des Abends. Glückliches Bregenz.