Sport: Marco Seliger (sem)
Um international konkurrenzfähig zu bleiben, braucht es gute, professionelle Rahmenbedingungen. Wie nehmen Sie die Situation für Ihre Athletinnen wahr?
Auch da hat sich Grundlegendes verändert. Früher musstest du dich entscheiden: Mache ich mit 17 oder 18 Jahren mit dem Turnen weiter oder gehe ich studieren oder fange eine Ausbildung an? Heute ist beides möglich: Turnen auf Spitzenniveau und eine berufliche oder universitäre Ausbildung. Das ist ein Quantensprung. Kim Bui ist dafür das beste Beispiel – sie kann studieren und mit 28 Jahren gleichzeitig turnen, dank der finanziellen Unterstützung der Sporthilfe, der Turn-Verbände und weiteren Partnern.
Dennoch gibt es in Deutschland seit Jahren Debatten über die ideale Verzahnung von Ausbildung und Spitzensport. Wie schätzen Sie die Problematik ein?
Was mich stört, ist, dass bei uns schon in der Schule nichts schnell genug gehen kann. Das G-8-Modell an den Gymnasien lässt sich nur schwer mit einer idealen Förderung von Talenten vereinbaren. Die jungen Leute sollen sich zu Spitzensportlern entwickeln und gleichzeitig in rasendem Tempo einen guten Schulabschluss machen – das geht fast nicht. In anderen Ländern kann man zwei oder drei Jahre später Abitur machen – und das ist nur im Interesse der Sportler.
Also Abitur mit 19, 20 oder 21 Jahren und damit mehr Zeit und Freiraum für die sportliche Ausbildung?
Zum Beispiel. Was verliert man denn, wenn man sein Abitur mit 20 Jahren macht? Die meisten Schüler – auch die, die keine Sportlerkarriere anstreben – wissen doch mit 17 oder 18 Jahren auch noch nicht so recht, was sie beruflich genau machen wollen, und legen dann zum Beispiel ein freiwilliges soziales Jahr ein. Prinzipiell sind wir aber sehr zufrieden mit unseren Kooperationsschulen, die den Turnerinnen viel Spielraum geben.
Was fällt Ihnen bei der Ausbildung der Athleten sonst noch auf?
Bei uns müssen die Turnerinnen nach Trainingslagern oft ihre Mitschülerinnen anrufen und fragen, was sie im Unterricht verpasst haben und dann den Stoff nachholen. Nur ein Beispiel dazu: In Italien ist es so, dass es für einen Stützpunkt, der vergleichbar mit unserem Olympiastützpunkt hier in Stuttgart ist, einen eigenen Lehrer für fünf Athletinnen gibt. Da ist alles geregelt: feste Trainingszeiten – und eine individuelle schulische Betreuung vor Ort. Davon sind wir noch weit entfernt.
Wie beurteilen Sie Ihre Arbeitsbedingungen als Trainerin?
Man braucht eine gesunde Portion Idealismus und eine große Begeisterungsfähigkeit für den Sport. Aus finanzieller Sicht und wegen einer Sicherheit für die Zukunft darfst du es eigentlich nicht machen. Viele Trainer verdienen bei einer ähnlichen universitären Ausbildung viel weniger als zum Beispiel ein Lehrer. Zudem haben viele befristete Verträge und weniger Urlaub. Da ist es kein Wunder, dass viele talentierte Übungsleiter in den Lehrerberuf wechseln. Weil sie mehr verdienen und bessere Arbeitsbedingungen haben. Beim Schwäbischen Turnerbund ist das anders, hier spüren meine Kollegen und ich eine große Sicherheit. Das ist aber hierzulande sicher nicht überall so.