Im deutschen WM-Aufgebot sind keine Athleten vom stärksten Standort Stuttgart vertreten. Das hat mit dem freiwilligen Verzicht seiner Besten zu tun: Marcel Nguyen und Kim Bui.

Sport: Gerhard Pfisterer (ggp)

Stuttgart - Busnari heißt das, was Marcel Nguyen gerade besonders beschäftigt. Ganz entspannt sitzt er in weißer Turnhose und grauem Langarmshirt im Stuttgarter Kunstturnforum auf dem gepolsterten Übungspauschenpferd ohne Beine, schaut während der Verschnaufpause seinen Trainingspartnern Helge Liebrich, Christian Auer und Sascha Palgen ein bisschen zu, ehe er sich wieder selbst an die Arbeit macht. Er studiert die Höchstschwierigkeit am Pauschenpferd ein, die nach dem Italiener Alberto Busnari benannt ist. Er drückt sich in den Handstand, wandert so einmal in fließenden Drehbewegungen über das Gerät und  zurück. Und noch einmal. Und  noch einmal.

 

Während sich die anderen deutschen Nationalturner gerade in der Endphase der Vorbereitung auf die am Montag beginnenden Weltmeisterschaften in Antwerpen befinden, übt der Olympiazweite vom MTV Stuttgart in heimischer Halle neue Elemente ein. Wegen Marcel Nguyens freiwilligem Verzicht stehen erstmals seit vielen Jahren keine Athleten aus dem führenden Leistungszentrum des Landes im deutschen Aufgebot. Das ist in etwa so, als ob die Fußball-Nationalmannschaft plötzlich ohne einen Spieler des FC Bayern München auflaufen würde.

Kim Bui konzentriert sich auf ihre Bachelorarbeit

Sebastian Krimmer fehlt aufgrund eines Bizepssehnenrisses. Der Neu-Stuttgarter Daniel Weinert schaffte den Sprung in den Kader nicht. Lisa-Katharina Hill musste wegen einer Fußverletzung absagen. Pia Tolle hat studienbedingt von Stuttgart nach Köln gewechselt. Marie-Sophie Hindermann hat mit dem Turnen aufgehört und versucht sich mittlerweile im Stabhochsprung, ihre Schwester Giulia ist zum Studieren in die USA gegangen.

Bleibt noch Kim Bui. Mit nassen Haaren eilt sie durch das Foyer des Kunstturnforums: nach der Trainingsarbeit ist vor der Laborarbeit für ihre Bachelorarbeit. Sie konzentriert sich zurzeit auf ihr Studium der Technischen Biologie an der Uni Stuttgart, erforscht im Institut für Biochemie mit Versuchen den Abbau eines bestimmten Enzyms der Gluconeogenese (Stoffwechselweg). Statt zwischen 28 und 35 Stunden trainiert die Spitzenturnerin des MTV Stuttgart zurzeit maximal 18 Stunden pro Woche. „Ich kann gerade keine WM-Vorbereitung mitmachen und ständig Wettkämpfe turnen, weil ich die Kraft nicht dazu habe, das ist einfach nicht drin“, sagt sie.

Wegen eines Studienpraktikums ließ die 24-Jährige aus Ehningen bei Böblingen in diesem Jahr bereits die Europameisterschaften in Moskau aus, turnte „nur“ die Universiade in Kazan – und gewann dort Bronze. „Ich habe sicherlich nicht für später ausgesorgt mit meinem Sport. Daher muss ich parallel dazu den beruflichen Weg ebnen. Ich wüsste nicht, ob ich glücklich wäre nur mit dem Sport. Ich brauche den Antrieb nebenher, ich  will nicht auf der Stelle stehen bleiben“, sagt Kim Bui.

Das nacholympische Jahr ist ein Übergangsjahr

Die Bundestrainerin Ulla Koch unterstützt sie dabei. „Ich muss mit den Athletinnen die duale Karriere so planen, dass sie uns länger erhalten bleiben. Wir sind stolz auf unser System –wir haben mittlerweile eine reife Mannschaft, bis vor ein paar Jahren haben die Mädels ja alle nach dem Abitur aufgehört“, sagt die Kölnerin. Für die Olympischen Spiele 2012 hatte Kim Bui ein Urlaubssemester eingelegt, nun hat im Gegenzug gerade das Studium Vorrang: „Es ist das nacholympische Jahr, es ist ein Übergangsjahr.“

Das gilt auch für Marcel Nguyen. Seine Gründe sind aber ganz andere. Mit seinen zwei Olympiasilbermedaillen im Sommer 2012 in London hat er sich einen Namen gemacht. Auftritte in Fernsehshows sind ebenso dazugekommen wie neue Sponsoren, gerade auf dem asiatischen Markt; der Halbvietnamese repräsentiert neuerdings eine Uhrenfirma und einen Vitamintablettenhersteller in Hongkong, wo er besonders populär ist und Anfang September eine Woche lang war – als die Vorbereitung auf die WM losging.

„Ich hatte viel um die Ohren, es ist fast zu viel geworden. Klar ist es da schwierig, sich neu zu motivieren, aber mittlerweile habe ich es geschafft“, sagt der 26-jährige Aufsteiger des deutschen Sports mit der eigenen T-Shirt-Kollektion. „Ich versuche, alles so abzustimmen, dass alles machbar ist.“ Olympia 2016 in Rio steht für ihn dabei über allem. Die Weltmeisterschaften in Antwerpen passten nicht in seinen Fahrplan dorthin. „Ich habe seit 2005 alles mitgenommen an Welt- und Europameisterschaften. Jedes Jahr zwei Höhepunkte, das ist belastend. Es ist jetzt eine gutes Jahr, um ein bisschen Belastung rauszunehmen für meinen Körper“, sagt Marcel Nguyen.

Marcel Nguyen verspricht, 2014 wieder anzugreifen

Er hat sich mit seinem Londoner Olympiaerfolg so einen hohen Status im deutschen Team erarbeitet, dass er sich das erlauben kann. Der Bundestrainer Andreas Hirsch war freilich nicht sonderlich begeistert über die Absage: „Diese Situation ist für mich wenig prickelnd. Wenn wir ihn voll motiviert und mit neuem Biss für das Jahr 2014 zurückkriegen, haben wir alles richtig gemacht.“

Das verspricht Marcel Nguyen. Er übt intensiv neue Elemente, um noch besser zu werden – drei Stunden vormittags, drei Stunden nachmittags: „Ich probiere viele verschiedene Sachen aus und brauche mehr Zeit, als wenn ich nur kurz meine Übungen durchziehe, die ich kann.“ So wie das neben ihm an diesem Vormittag der Luxemburger Sascha Palgen tut, der in Antwerpen antreten wird. „Na also, da haben wir ja doch einen Stuttgarter Starter“, sagt Marcel Nguyen, lächelt – und beschäftigt sich wieder mit Busnari.