Die deutsche Männerriege um Andreas Toba geht ohne reelle Medaillenchance in die Titelkämpfe der Turner in der Stuttgarter Schleyerhalle – woran liegt das?

Sport: Marco Seliger (sem)

Stuttgart - Es gab mal eine Zeit, da glänzte das deutschen Männerturnen. Von der goldenen Generation war die Rede, was nicht immer so ganz stimmte, weil die Medaillen auch mal silbern waren, die Fabian Hambüchen, Marcel Nguyen und vorher auch schon Philipp Boy bei Großereignissen holten. Dreimal Silber bei den Olympischen Spielen von London 2012 gab es etwa, zwei Plaketten holte Nguyen, eine Hambüchen. Es gab Gold von Fabian Hambüchen am Reck 2016 in Rio de Janeiro. Hinterher verließ der Goldjunge die große internationale Bühne.

 

Und hinterließ eine riesige Lücke.

An diesem Sonntag greift die deutsche Männerriege in die Heim-Weltmeisterschaft in der Stuttgarter Schleyerhalle ein, im Qualifikationswettkampf (19.30 Uhr) geht es um die Teilnahme an den Olympischen Spielen 2020 in Tokio. Und damit schon um alles. Denn um Medaillen wird es in der zweiten WM-Woche aller Voraussicht nach nicht gehen. Zu groß ist der Abstand zur Weltspitze. Im deutschen Team bringen die Frauen den Glanz. Und womöglich einen Platz auf dem Treppchen.

Auf dem Erfolg der goldenen Generation ausgeruht

Woran liegt es also, dass das deutsche Männerturnen derzeit ein Patient ist bei der WM im eigenen Land? Fabian Hambüchen, der offizielle WM-Botschafter, der Mann, der die Lücke hinterließ, stieß die Debatte beim Redaktionsbesuch in unserer Zeitung vor der WM aufs Neue an. Seine Kritik: Der Deutsche Turner-Bund (DTB) bietet zu wenig Anreize für Trainer – finanzielle und in Form von unbefristeten Verträgen. Und wo es zu wenige qualifizierte Coaches gebe, gibt es laut Hambüchen dann irgendwann keine starken Nachwuchskräfte mehr. Und: Man habe sich beim Verband zu sehr auf den Erfolgen der goldenen Generation ausgeruht.

Ist dem DTB also wirklich der Schwarze Peter zuzuschieben? Sportdirektor Wolfgang Willam gelobte nach der Hambüchen-Schelte Besserung in Sachen Trainerjobs – am Freitag nun, dem ersten Tag der WM, äußerte sich auch der DTB-Präsident Alfons Hölzl zum Stand der Dinge.

Passend zum Auftakt in der Schleyerhalle kam Hölzl im Trainingsanzug des deutschen Teams, er will in diesen Tagen so etwas wie Zuversicht verbreiten. Er betont, dass die Chancen gut stünden, mit den Männern bei Olympia dabei zu sein. Mehr Hoffnungen kann er nicht machen – es wäre auch vermessen. Denn die nächste goldene Generation ist nicht in Sicht.

Die Politik ist am Zug

Hölzl, ein Bayer mit kernigem Zungenschlag aus der Heimat, spricht gerne von systembedingten Dingen, die man nun angehen müsse. Er meint damit Dinge, die auch Fabian Hambüchen gerne anprangert, nur in schärferer Form. Auch für Alfons Hölzl ist es ein Problem, dass man im Zuge der deutschen Spitzensportreform immer öfter den zentralen Ansatz wählt, wenn es um die Stützpunkte geht. „Man kann nicht immer jeden talentierten Turner aus seinem vertrauten Umfeld herausreißen und ihn zum Beispiel von Schleswig-Holstein in einen weit entfernten Stützpunkt oder ins Internat versetzen“, sagt Hölzl.

Und bei der Trainer-Problematik sei es laut Hölzl so, dass auch der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) und die Politik am Zug seien. Finanzielle Anreize und bessere Rahmenbedingungen schaffen, das sagt Hölzl auch noch gerne. Er will die Verantwortung, das ist zu spüren, nicht allein übernehmen.

Über den Dingen steht dabei immer diese eine Frage: Wer will heute noch Trainer sein? Die Fluktuation ist bei besseren Perspektiven, zum Beispiel als Lehrer, hoch. Und wenn es dann befristete Verträge gibt, kann es sein, dass ein Toptalent in Deutschland plötzlich ohne seinen vertrauten Trainer dasteht, der ihn bisher gefördert und geformt hat.

Andergassen lebt im Trainer-Schlaraffenland

Thomas Andergassen kennt diese Fälle nicht. Zumindest nicht aus seinem unmittelbaren Umfeld. Andergassen, als aktiver Turner einst deutscher Meister mit dem MTV Stuttgart, leitet als Stützpunkttrainer des Schwäbischen Turnerbunds (STB) im Cannstatter Kunstturnforum den Nachwuchs an. Er sagt: „Trainer bist du immer aus Leidenschaft.“

Der Coach lebt dabei, wenn man so will, im Trainer-Schlaraffenland. Er hat dank seiner Anstellung in der Sportfördergruppe der Bundeswehr, von der er für seine Tätigkeit in Stuttgart freigestellt ist, nun ja, ein schönes Trainerleben.

Dennoch weiß er um die Problematik im deutschen Turnen, speziell im Bereich der Trainer – und sagt: „Man muss die Toptalente eben auch erst mal finden.“ Und, na klar, ohne geeignete Toptrainer, die kein Gespür und keine Fachkenntnis haben, da verschwindet dann eine mögliche Topnachwuchskraft gern mal unterm Radar. Weil sie zwar im Verein turnt, aber ihr Potenzial nicht erkannt oder in die richtigen Bahnen gelenkt wird. Es sei, so Thomas Andergassen, daher zwingend erforderlich, dass gut ausgebildete Trainer in die Vereine gehen, sie unterstützen und dort eben auch nach Talenten Ausschau halten.

Japan ist das Vorbild der Szene

Nur – wer soll da Ausschau halten? Der Trainerjob ist zeitintensiv, viele Wochenenden gehen drauf. Ohne finanzielle Sicherheit lassen sich da kaum geeignete Übungsleiter finden. Und auch einige Modelle aus anderen Nationen taugen nur bedingt zum Vorteil. Das japanische Turnen etwa ist derzeit so etwas wie das ultimative Vorbild in der Szene, weil die aktiven Athleten bereits während der Karriere aktiv vom Verband geschult und angeworben werden – als spätere Verbandstrainer.

Thomas Andergassen sagt dazu trocken, dass es in Japan für Turner und deren Trainer ganz andere Verdienstmöglichkeiten gebe. So einfach und so schwierig ist das im deutschen Turnsport.