Was die Atmosphäre in der Stuttgarter Schleyerhalle ausmacht – und wie die Athleten bei den Turn-Weltmeisterschaften davon profitieren.

Sport: Marco Seliger (sem)

Stuttgart - Andreas Toba (29) ist ein weit gereister Turner, er kennt die Hallen dieser Welt. Er kennt, je nach Austragungsort, den Krach oder die Stille, die von den Rängen ausgehen kann. Über die Atmosphäre in der Stuttgarter Schleyerhalle und den Einfluss auf seine Leistungen sagt der Hannoveraner zur Halbzeit der Turn-WM dies: „Das ist, wie wenn du im Fitnessstudio bist, 100 Liegestützen machen sollst, nach 97 oder 98 nicht mehr kannst – und dann kommt der Coach und brüllt: ‚Du schaffst das.‘“

 

Stimmung setzt Kräfte frei

In diesen Tagen gibt es für Toba und Kollegen 7500 Coaches: „Wenn man die Menge hier in Stuttgart schreien hört“, sagt er, „dann greifst du noch mal doller an die Reckstange oder an die Ringe.“ Die „unfassbare Stimmung“, so sagt es Toba, setze Kräfte frei, die er so noch nie wahrgenommen habe. Wenn die Muskeln übersäuern, wenn man kurz davor ist loszulassen, dann hält die Kraft des Publikums einige Turner oben an den Geräten. So weit ist es gekommen in der Turnhochburg Schleyerhalle. Dort also, wo nicht nur Lärmempfindlichen in diesen WM-Tagen zum Ohrenschutz zu raten ist.

Viel war zuletzt von der Atmosphäre bei sportlichen Großveranstaltungen die Rede nach dem Stimmungsreinfall bei der Leichtathletik-WM in Doha, dort also, wo die olympische Kernsportart eine Tradition hat wie so ziemlich jede andere Sportart auch: keine. Die Leichtathletik passt nicht nach Doha, wahrscheinlich ebenso wenig wie der Fußball mit seiner WM in knapp drei Jahren.

Turnen und Stuttgart – das passt

Turnen und Stuttgart aber, das scheint zu passen. Seit Jahrzehnten. Es gibt jedes Jahr den Traditionswettbewerb DTB-Pokal. Es gibt den deutschen Serienmeister bei den Frauen, den MTV Stuttgart. Es gibt jetzt die dritte WM in der Stadt nach 1989 und 2007. Und es gibt diese einzigartige, flirrende Atmosphäre in der Schleyerhalle. Wohl noch nie waren Qualifikationswettkämpfe so gut besucht wie in den ersten Tagen dieser WM. Und wohl noch nie war es so laut.

Lesen Sie hier: Superstar Simone Biles in Stuttgart

Der Hallensprecher Jens Zimmermann am Mikrofon animiert dabei nach Kräften, die Show gehört irgendwie dazu heutzutage, klar. Seine Aufforderung zum Applaus („Auf geht’s, Stuttgart, clap your hands – alle Hände!“) dürfte er inzwischen weit mehr als hundertmal ins Hallenmikro gesprochen haben. Das berühmte Fliegerlied wird in den ersten Tagen oft abgespielt, die offenbar unvermeidliche Festzeltatmosphäre wird also kredenzt, passend zum Wasen nebenan. Und wenn die Discokugel auf der riesigen Leinwand kreist, soll wie drüben auf den Bänken in den Volksfestzelten auf den Rängen getanzt werden, solche Dinge.

Auf der Leinwand wird obendrein regelmäßig ein imaginäres rotes Männchen mit Besen eingeblendet. Es läuft dazu das Lied „I don’t care, i love it“. Was dann, passend zur Kehrwoche, „I don’t kehr“ heißen soll. Das auf der Leinwand eingeblendete Publikum soll dann den imaginären Besen schwingen und das schwäbische Putzbrauchtum in die Turnhalle fegen – das kann man witzig finden oder nicht. Fakt ist: Wichtig ist es nicht.

Kollektiver Turnrausch

Es ist nur ein Nebeneffekt dieses kollektiven Turnrausches in der Halle, der gleichzeitig angemessen nüchtern daherkommt. Denn zur Show mischt sich immer eine große Portion Fachkenntnis dazu. Andreas Toba drückt es so aus: „Man merkt es bei einzelnen Übungen, wenn mal ein kurzer, kollektiver Aufschrei kommt oder ein kurzer Jubel – das muss von Fachleuten kommen, denn der Laie erkennt diese komplexen Dinge nicht.“

Nicht alle Zuschauer, aber viele kennen sich also aus mit dem, was sie in der Halle sehen. Es handelt sich um ein Fachpublikum, das sich begeistern lässt – und in diesen WM-Tagen selbst begeistern kann. Durch Applaus für alle Athleten, durch aufmunternden Beifall, wenn ein Turner vom Gerät geht. Und durch Jubelschreie nach formidablen Übungen, die an den Torschrei im Fußballstadion erinnern. Dass der bei den deutschen Athleten etwas lauter ausfällt als bei jenen aus anderen Nationen, das liegt in der Natur einer Heim-WM. Fairness aber wird großgeschrieben in der Schleyerhalle – dort, wo das Publikum auch fernab der großen Bühne dem Turnen kaum entkommt.

Schon am Eingangsbereich, im Foyer, soll der Handstand geprobt werden, die Zeit wird dazu gemessen. Weiter hinten, in der sogenannten Kinder-Bewegungswelt, gibt es Turnklamotten satt zu kaufen, vor und nach den Wettkämpfen geht es so hektisch zu wie am Wühltisch im Kaufhaus. Und nebenan, da gibt es kleine Balken und Barren zum Turnen, an manchen Tagen müssen Kinder anstehen, weil so viele andere auch an die Geräte wollen. Und manchmal, da braucht es eine klare Ansage der Eltern: „Auf jetzt, ab in die Halle – die Biles turnt doch gleich.“