Ein Stuttgarter schreibt Olympia-Geschichte: Der deutsche Silberturner Marcel Nguyen hat in London alle überrascht und gewann die erste deutsche Mehrkampfmedaille seit 1936. Dabei mag er eine Disziplin überhaupt nicht.

London - Es war seine leichteste Übung an diesem Tag. Beherzt sprang Marcel Nguyen seinem Trainer Valeri Belenki in die Arme, um wenig später jeden zu umarmen, der ihm begegnete. Der in Stuttgart lebende und trainierende Turner hatte es extrem spannend gemacht, als er als letzter Turner im olympischen Mehrkampffinale am Boden antreten musste. Anschließend dauerte es ein paar Sekunden, bis Nguyens Wertung, die letzte des Tages, auf dem Würfel unter dem Hallendach auftauchte und im Klassement alles durcheinanderbrachte. Danach gab es kein Halten mehr. Selbst Stuttgarter OB Wolfgang Schuster gratulierte dem Stuttgarter Medaillen-Turner - auf Facebook, wo Nguyens Anhängerzahl seit seinem Olympia-Erfolg explodierte.

 

Nguyen sprang in die Höhe und startete dann seine Schmusetour durch das deutsche Lager. Der zweimalige Barren-Europameister hatte nicht Bronze gewonnen, was schon eine große Überraschung gewesen wäre – nach einer perfekten Bodenkür hing nun sogar Silber um seinen Hals. „Es ist alles aufgegangen, was wir uns vorgenommen haben. Ein perfekter Tag, ich bin sehr glücklich und kann es noch gar nicht fassen“, sagte der 24 Jahre alte Nguyen. Er gewann die erste deutsche Mehrkampfmedaille seit 1936 – und damit seit 76 Jahren.

Pferdesprung mag er nicht

Angefangen hatte alles mit dem Gerät, das Nguyen am liebsten aus dem Programm streichen würde. „Den Pferdsprung mag er nicht, ich muss ihn im Training jeden Tag an dieses Gerät zwingen. Das Ziel war, dieses Gerät irgendwie zu überstehen. Danach hat er den Wettkampf seines Lebens gemacht“, sagte Belenki. Er betreut Nguyen, der vom TSV Unterhaching kommt, schon seit fünf Jahren am Stützpunkt in Stuttgart. Nur der überragende Japaner Kohei Uchimura war gestern nicht mehr einzuholen und gewann Gold. Dritter wurde der Amerikaner Danell Leyva.

„Wenn man plötzlich da unten steht und die Medaille um den Hals hat, muss man erst einmal mit der Welt klar kommen“, sagte Nguyen, der immer wieder seine Medaille in die Hand nahm und sie anschaute. „Nach dem Reck habe ich gedacht, das könnte reichen, vielleicht sogar zu Silber, aber ich habe mich nicht verrückt gemacht. Ich dachte nur, entweder es reicht oder nicht.“ Auf der Tribüne der gigantischen New Greenwich Arena saßen seine Freundin, die Mutter und seine Schwester. „Ich habe nur meine Freundin gesehen, sonst leider keinen, da waren so viele Leute“, sagte Nguyen.

Den Wadenbeinbruch hat er überstanden

Eigentlich hatte man Fabian Hambüchen auf den Medaillenrängen erwartet, aber der Bronzemedaillengewinner von Peking 2008 am Reck erwischte einen rabenschwarzen Tag und patzte sogar am Reck. „Er muss jetzt im Hinblick auf das Reckfinale nach vorne schauen“, sagte Andreas Hirsch. Der Bundestrainer wollte sich nicht lange mit Hambüchen aufhalten, sondern rang sichtlich bewegt um Worte. „Ich bin überwältigt. Der Mehrkampf ist für mich die Krönung des Turnens. Marcel hat mit der Medaille so viel für das deutsche Turnen getan“, sagte Hirsch.

Nguyen, der erst 2010 einen Wadenbeinbruch zu überstehen hatte, erwies sich im tosenden Lärm der Greenwich Arena als nervenstarker Athlet. „Lärm stört ihn nicht“, sagte Belenki, „er hat nicht daran geglaubt, dass er hier etwas gewinnt. Ich musste ihn immer wieder überzeugen. Ich habe ihn quasi zur Medaille getrieben.“ Belenki ließ sich sofort die Medaille zeigen. „Gib sie her“, rief er, „ich weiß gar nicht wie so was aussieht", sagte Belenki, der 1992 mit der GUS-Mannschaft Gold und im Einzel noch Bronze gewann.

Das mächtige Brust-Tattoo des Turners

Belenkis Zwangsmaßnahmen passen übrigens gut zu Nguyens mächtigem Brust-Tattoo. „Pain is temporary, pride is forever“, steht seit Anfang Mai auf dem muskulösen Körper – was so viel wie „Qualen gehen vorüber, der Ruhm bleibt für immer“ bedeutet. Um das Tattoo hatte es vor Olympia einigen Wirbel gegeben. Nguyen bekam schließlich die Erlaubnis, es in London zu „tragen“ und nicht zu bedecken.

„Er hat viel für mich getan“, sagte Nguyen freudestrahlend über seinen Förderer Belenki. Bald will er ihn zum Dank zum Essen einladen. Vorerst aber werden alle Feierlichkeiten verschoben. Nguyen startet in London noch in den Einzelfinals und will dort seine Medaillensammlung erweitern.