Barbara Keller aus Schwäbisch Hall hat nur ein funktionierendes Geschlechtschromosom. Seit Jahren kämpft sie gegen Vorurteile.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Schwäbisch Hall - Auf den ersten Kinderbildern merkt man noch nichts: Ein Baby mit leichtem Silberblick liegt lachend im Bettchen, eine vielleicht Zweijährige mit geflochtenen Zöpfen hält eine Puppe in der Hand, eine etwa Vierjährige planscht mit ihren beiden Geschwistern in der Wanne. Beim Einschulungsfoto wird es deutlich: Barbara als Siebenjährige mit ihrer fünfjährigen Schwester vor dem Elternhaus in Schwäbisch Hall. Barbara hält stolz ihre Schultüte in den Händen. Beide lächeln. Ihre kleine Schwester ist viel größer als sie.

 

Barbara Keller steht auf, stemmt die Arme in die Seiten, schaut herausfordernd durch ihre Brille. „Was schätzen Sie, wie groß ich bin?“ Die Antwort gefällt ihr, liegt aber zehn Zentimeter daneben. „Es sind 146,5 Zentimeter, ich sehe größer aus, das machen die Kilos. Und ich gucke gerade in die Welt.“ Sie setzt sich zurück vor ihren Milchkaffee und erzählt ihre Lebensgeschichte und von dem Einfluss, den ein fehlendes Chromosom darauf genommen hat.

Die kleine Barbara ist neun Jahre alt, als ein Tübinger Arzt sie „auseinandernimmt“, weil sie nicht normal wächst. Er untersucht ihr Blut und analysiert ihre DNA. Danach ist für den Mediziner klar: die kleine Barbara ist deshalb so klein, weil sie mit dem Ullrich-Turner-Syndrom geboren worden ist. Auf 2000 bis 2500 Geburten kommt ein Baby mit dieser Diagnose, zu der Mediziner auch 45X0 sagen. Die meisten betroffenen Mädchen haben nur ein X-Chromosom. Bei Barbara Keller wurde eine zweite Variante festgestellt: Sie hat nur ein intaktes X-Chromosom, das zweite Geschlechtschromosom ist unvollständig. Die körperlichen Folgen sind vielfältig, zu den gravierendsten zählen Kleinwüchsigkeit und Unfruchtbarkeit. Die Eierstöcke sind unterentwickelt oder fehlen ganz. In wenigen Ausnahmefällen soll eine künstliche Befruchtung gelungen sein.

Als der Tübinger Arzt den Kellers die Diagnose 1968 mitteilt, ist es für sie ein Schock. Er gibt ihnen zwei Ratschläge mit auf den Weg, für die Barbara Keller ihm bis heute dankbar ist: „Nehmen Sie keine Schuldzuweisung vor und erziehen Sie Ihre Tochter so wie Ihre anderen Kinder auch.“

Es gab viele verletzende Momente

Barbara Keller lässt nichts auf ihren Vater und ihre Mutter kommen, obwohl es verletzende Momente gegeben hat. Einmal war zu Hause „dicke Luft“, da ist ihrer Mutter ein Satz entfahren, der wehgetan hat: „Hätte ich das vorher gewusst, hätte ich dich wegmachen lassen.“ Aber die Tochter hegt keinen Groll: „Ich bin gewollt“, sagt sie. Man müsse sich klarmachen, welcher Generation ihre Eltern angehören. Ihr Vater, Jahrgang 1920, ist zum Mann gereift, als die Nazis Euthanasie zum Staatsprogramm machten. „Ich habe großartige Eltern, sie haben mich immer gestützt.“

Barbara Keller streicht sich durchs graue Haar. Sie hat es lange gefärbt, jetzt stört es sie nicht mehr. Seit der Einschulung trägt sie die Haare kurz. Ihr Haaransatz ist hinten tief, das liegt am kurzen, breiten Hals, der neben der geringen Körpergröße typisch ist für Frauen mit der Chromosomenanomalie. Bei Mädchen, die heute mit dem Syndrom geboren werden, wird versucht, die Kleinwüchsigkeit zu verhindern. Sie bekommen schon sehr früh Wachstumshormone. Es ist eine schmerzhafte Prozedur für Kinder und Eltern. Barbara Keller ist froh, dass sie vor den Spritzen verschont wurde. Früher war die Therapie noch nicht individuell abgestimmt. Sie kennt Frauen mit überproportional großen Händen als Folge der Spritzen.

Die Hände der 53-Jährigen sind klein, die Nägel kurz, das Nagelbett ist nach oben gebogen – auch Erkennungsmerkmale. Dass sie seit Jahren Hörgeräte tragen muss, hat auch seinen Grund: Mädchen mit Turnersyndrom sind besonders anfällig für Mittelohrentzündungen. Am meisten zu schaffen machen ihr aber die Gelenke. Weil sich die Wachstumsfugen bei ihr nicht richtig geschlossen haben, werden sie nicht mehr lange mitmachen, eine familiäre Belastung für Arthrose kommt noch hinzu. Ein künstliches Hüftgelenk hat sie schon.

Das Treppensteigen fällt ihr schwer, doch fürs Foto nimmt sie die unteren Stufen vor der Michaelskirche ihrer Heimatstadt tapfer. Sie liebt diese, ihre Treppe, die im Sommer zur Bühne wird. Seit sie 14 ist, besucht sie jedes Jahr die Freilichtspiele. Nur 2012 musste sie aus Geldmangel pausieren. Ihr erstes Fotoshooting: zuerst ist sie verkrampft, doch dann entspannt sie sich, ignoriert, dass die Steinstufen eigentlich zu kalt sind, um darauf zu sitzen. Sie blinzelt lächelnd in die Wintersonne.

Der unerfüllte Kinderwunsch

Schräg gegenüber beim Café am Markt ist die Freiluftsaison eröffnet. Frischgebackene Mütter plaudern beim Cappuccino. Barbara Keller hätte gerne Kinder bekommen. Doch ihr hat der richtige Partner gefehlt. Dafür ist sie mehrfache Tante. Bei ihren Brüdern hat sie sich sofort über den Nachwuchs freuen können. Bei der Schwester, gesteht sie, hat es einen Tag gedauert. Damals, vor 23 Jahren. „Ich habe alles geschafft und gehe meinen Weg, aber da kann ich nicht mithalten“ – diese Erkenntnis hat sie getroffen. Als sie von der Geburt erfuhr, ist sie in die Disco gefahren. Es lief eine Rockballade, sie tanzte und scherte sich nicht darum, dass alle um sie herum ihre Tränen sehen konnten. Am nächsten Tag war es gut. Da ist sie ins Krankenhaus gefahren, um ihren Neffen zu sehen.

Schon ihre Pubertät ist „nicht normal“ verlaufen. Die anderen Mädchen hatten Freunde, knutschten auf Partys, als sie noch wie ein Kind aussah. Sie musste Östrogene schlucken, damit sich ihr Körper entwickelte. Es dauerte zwei Jahre, bis die Geschlechtshormone anfingen zu wirken. Die Jungen nahmen sie gar nicht wahr, sie konzentrierte sich umso mehr auf die Schule. Als sie das Fachabiturzeugnis endlich in der Hand hatte, feierte sie ausgelassen, sprang vor Freude in die Luft – und verknackste sich den Fuß. Barbara Keller schmunzelt, als sie das erzählt. Mit den Männern, das hat sie nachgeholt.

Mit Anfang 20 dachte sie noch, sie wäre allein. Ihr halbes Leben kannte sie keine andere Frau, die war wie sie. Lange hatte sie sogar Hemmungen, den Kontakt zu suchen. Was wäre, wenn das alte medizinische Wörterbuch aus dem elterlichen Buchregal doch recht hätte? Mädchen mit Turner-Syndrom seien geistig retardiert, hatte sie darin als Schülerin gelesen. Bis heute schmerzt sie der Satz, der längst wissenschaftlich überholt ist. Frauen mit Turner-Syndrom sind genauso intelligent wie andere. Es gibt welche mit Doktortitel und welche ganz ohne Schulabschluss. Was man allerdings auch weiß, ist, dass sie oft Probleme mit dem räumlichen und dem mathematischen Denken haben.

Das ist auch bei Barbara Keller so: Ihre erste Lehrerin wollte sie wegen ihrer Rechenschwäche auf die Sonderschule schicken. Zum Glück bekam sie in der zweiten Klasse eine neue Lehrerin, die an sie glaubte. Fragt man sie heute, was sie am meisten an sich mag, antwortet sie: „Dass ich nicht auf den Kopf gefallen bin.“

Sie will aufklären

Der Zufall brachte sie schließlich mit ihren „Mädels“ zusammen. Sie war 28, als sie im Wartezimmer eine Meldung über andere Betroffene las. „Fahr hin“, sagte ihre Mutter damals. Sie fuhr mit „klopfendem Herzen“ zu Ursula ins Saarland. Am Bahnhof haben sich die beiden sofort erkannt und lagen sich in den Armen. „Wir sahen aus wie Schwestern.“

Damals hat Barbara Keller beschlossen, über das Turner-Syndrom aufzuklären. Sie wurde Vorsitzende einer bundesweiten Vereinigung für Betroffene, ist heute noch Regionalvorsitzende der Stuttgarter Selbsthilfegruppe. „Ich mache das, weil ich will, dass es meinen Mädels gutgeht. Das ist die größte Genugtuung für mich“, sagt sie. In Toronto waren sie mit der Gruppe, in Dänemark und in Hamburg. Auf den Fotos der Reisen sieht man eine glückliche, junge Barbara Keller, die entzückend lacht.

Gerade lacht sie eher selten. Das hat nicht mit dem Turner-Syndrom zu tun, sondern damit, dass sie Hartz IV bekommt. Manchmal bereut sie, dass sie nicht an ihrem ersten Berufswunsch festgehalten hat: Grund- und Hauptschullehrerin. „Ich hätte das durchgezogen“, glaubt sie. Doch sie ließ sich umstimmen: „Du hast keine natürliche Autorität mit der Statur“, hieß es aus Familie und Bekanntenkreis.

Sie ist Buchhändlerin geworden, hat in einem Verlag gearbeitet. Bis sie kündigte, weil sie die Sprüche ihres Vorgesetzten nicht mehr ertragen habe, wie sie sagt. „Ich bin klein, ich bin irgendwie anders, das bietet Angriffsflächen.“ Sie wechselte nach Stuttgart. Doch dann machte der Buchhändler die Filiale dicht, und Barbara Keller fand keinen Anschlussjob mehr. Wenn man sie auf das Thema Inklusion anspricht, wird sie leidenschaftlich. „Ich kann mit meinem Kopf arbeiten, aber nur dem Körper wird Achtung gezollt.“

Kürzlich hat sie ein Berliner Paar kennengelernt, das ein Mädchen mit Turner-Syndrom und einem Herzfehler erwartet. Sie findet es gut, dass die Eltern ihr Kind bekommen wollen und sich gegen die Abtreibung entschieden haben. Sie hat die beiden angesehen und ihnen gesagt: „Ihr Mädchen kann ein erfülltes Leben führen.“