Siebzig Jahre nach der atomaren Zerstörung Nagasakis trifft der ehemalige ARD-Korrespondent Klaus Scherer Überlebende. Ihre Aussagen, die Fotos und Filmaufnahmen aus der zerstörten Stadt sind erschütternd.

Stuttgart - Michiaki Ikeda sammelte am 9. August 1945 auf dem Dach des Krankenhauses, in dem seine Mutter arbeitete, Bombensplitter. Weil sein Freund zur Toilette musste, waren beide Kinder gerade auf dem Weg nach unten, als die Plutonium-Bombe explodierte. In der ARD-Dokumentation „Nagasaki“ erinnert sich Michiaki Ikeda an den „unglaublich hellen Blitz“, dann sei er ohnmächtig geworden. Später findet er seine Mutter schwer verletzt, ihr Körper ist voller Glassplitter. In diesem Krankenhaus, berichtet der Filmautor Klaus Scherer, seien auch Opfer des ersten Atombombenabwurfs in Hiroshima drei Tage zuvor behandelt worden. Demnach hat es Menschen gegeben, welche die Zerstörungskraft einer solchen Waffe gleich zweimal erleben mussten.

 

Hiroshima ist zum Symbol des atomaren Schreckens geworden, Nagasaki steht im alljährlichen Gedenken in der zweiten Reihe. Die Aussagen der Zeitzeugen, die Fotos und Filmaufnahmen aus der zerstörten Stadt sind allerdings ebenso erschütternd. Manchmal ist es grenzwertig, sie zu zeigen. Ein Foto zeigt eine junge Frau, die neben einem Haufen Asche steht, der mal ein Mensch gewesen sein muss, wovon der noch zu erkennende Totenschädel zeugt: Dies waren die Überreste ihrer Mutter. Scherer hat Chieko Ryu in einem Altersheim ausfindig gemacht, wo die alte Dame zum Gedenken an die Mutter weinend einen kleinen Tischaltar aufbaut. „Ich höre seit zwanzig Jahren als Reporter Menschen zu. Nie haben mich Schilderungen derart ergriffen“, sagt Scherer, der mit einem Film über japanische Kamikaze-Flieger den Adolf-Grimme-Preis gewonnen und sowohl in Tokio als auch in Washington als ARD-Korrespondent gearbeitet hatte.

Außerdem geht der Autor der Frage nach: „Warum fiel die zweite Bombe?“, wie es im Untertitel heißt. Die naheliegende Erklärung lautet: weil die US-Regierung unbedingt beide Bombentypen – die Hiroshima-Bombe war mit Uran bestückt – ausprobieren wollte. Dass der Atombombeneinsatz notwendig gewesen sei, um Japan zur Kapitulation zu zwingen, zweifeln Historiker längst an. Deshalb ist es arg übertrieben, dass es nun der ARD-Autor sein soll, der den Mythos der Atombomben entzaubere, wie der Norddeutsche Rundfunk in seiner Pressemitteilung vollmundig formuliert. Scherer hat namhafte Wissenschaftler aus den USA wie den Pulitzer-Preisträger Martin Sherwin sowie einige japanische Experten vor die Kamera geholt. Sherwin erklärt, keine der beiden Bomben sei notwendig gewesen. Sollte es noch Vertreter seines Fachs geben, welche die offizielle Rechtfertigungsstrategie gelten lassen: hier treten sie nicht auf.

Der Mythos des „final blow“ wird als falsch entlarvt

Zu den wichtigsten Einwänden zählt das Argument, Japan sei bereits vor dem Einsatz der Atombomben besiegt gewesen. So lautete auch 1945 der Kommentar in der US-Wochenschau, die Scherer zitiert. Ein Jahr später hieß es, erst die Bombe auf Nagasaki sei der entscheidende Schlag („the final blow“) gewesen, der die Japaner zum Einlenken gebracht habe. Historiker wie Sherwin halten es dagegen für erwiesen, dass Japan längst zur Kapitulation bereit gewesen sei, aber die von den USA geforderte Abschaffung des Kaisertums nicht annehmen konnte. Japan habe auf eine Vermittlung durch die Sowjetunion gehofft, doch Stalin erklärte Japan am 8. August den Krieg. Am 2. September kapitulierte Japan, die siegreichen USA bestand dann doch nicht auf der Abschaffung des Kaisertums. Der Monarch habe dem Volk gegenüber ebenfalls die Bomben als Grund für die Niederlage angegeben, kommentiert Scherer im Film. „Das hat den Vorteil, dass über seine Kriegsschuld kaum jemand spricht.“ Einige der Überlebenden schon. Sie seien Opfer zweier Täter gewesen, sagt ein Mann aus Nagasaki im Film, „die Opfer Amerikas und die Opfer unserer eigenen Kriegsregierung“.

Weitere Details zu den politischen Hintergründen bietet auch der britische Dokumentarfilm „Count-Down in ein neues Zeitalter: Hiroshima“, der am Dienstag einen Themenabend bei Arte eröffnet. Bemerkenswert sind darin aber vor allem die Berichte über das Leben nach der Bombe. In der zerstörten Stadt regierte anfangs die Mafia, Waisenkinder verhungerten auf der Straße. Und die amerikanischen Mediziner, die die Folgen der Verstrahlung erforschen sollten, untersuchten die erkrankten Menschen nur, aber behandelten sie nicht. Eine alte Frau erinnert sich voller Scham daran, wie sie als junges Mädchen nackt auf eine Bühne gestellt wurde, damit die Ärzte die Symptome der Strahlenkrankheit begutachten konnten. Die Überlebenden, die in Japan „Hibakusha“ genannt werden, fühlten sich als Versuchskaninchen – und stießen zudem in der Heimat auf Angst und Misstrauen.

Von all dem hatte der ZDF-Dokumentarfilmer Hans-Dieter Grabe schon vor dreißig Jahren erzählt. Seinen mit einem Grimme-Preis prämierten Film „Hiroshima, Nagasaki – Atombombenopfer sagen aus“ aus dem Jahr 1985 wiederholt ZDF Kultur am Mittwoch.