Die neue Amazon-Serie „Hanna“ ist ein Coming-of-Age-Spionagethriller mit feministischer Botschaft. Ein Gespräch mit der Hauptdarstellerin und der Regisseurin über falsche weibliche Rollenbilder, über Eltern, die nicht loslassen können, und übers Furzen.

Freizeit & Unterhaltung : Gunther Reinhardt (gun)

Berlin - In der Thrillerserie „Hanna“ taugen Männer nur als Nebenfiguren. Ein Mädchen wächst hier absolut isoliert auf, bis es von Geheimdienstlern entdeckt und gejagt wird.Die Amazon-Prime-Originalproduktion von David Farr („The Night Manager“) liefert eine feministische Neuinterpretation des Genres – vor allem dank der Regisseurin Sarah Adina Smith und der Hauptdarstellerin Esmé Creed-Miles. Wir haben die beiden gemeinsam zum Interview in Berlin getroffen.

 

Ms. Creed-Miles, Ms. Smith, erst „Killing Eve“ und jetzt „Hanna“ – ich habe den Eindruck, dass das traditionell männlich dominierte Thrillergenre endlich auch die weibliche Perspektive entdeckt.

Smith Wenn dir ein Skript überreicht wird, bekommst du als Regisseurin oder Schauspielerin immer noch oft den Satz zu hören: „Oh, in dem Drehbuch gibt es übrigens eine starke weibliche Hauptfigur.“ Ich weiß, dass Leute so etwas mit guten Absichten sagen, weil starke weibliche Figuren früher tatsächlich selten waren. Aber eigentlich ist das ein bisschen herablassend. Ich hoffe, wir sind inzwischen an einem Punkt angekommen, an dem Frauen genau wie Männer ganz selbstverständlich als vielschichtige Charaktere wahrgenommen werden. Und was heißt eigentlich stark? Stärke wird oft damit assoziiert, dass man nicht verletzlich ist und keine Gefühle zeigt. Was wir mit „Hanna“ sagen wollten, ist: „Fuck that Noise: Gefühle sind eine Stärke! Verletzlichkeit ist eine Stärke!“

Creed-Miles Ich glaube aber, das kulturelle Klima in der Industrie, in der wir arbeiten, ändert sich gerade. Sie hat derzeit für Frauen viele interessante Rollen im Angebot, und öffnet sich für Themen wie Diversität oder Inklusion und für Geschichten, die aus neuen Perspektiven und mit unterschiedlichen Stimmen erzählt werden. Ich finde, „Hanna“ ist dafür ein wunderbares Beispiel.

Die Serie stammt von einem Mann.

Creed-Miles Ja, David Farr hat ein großartiges Drehbuch geschrieben. Ich glaube aber, Sarah und mir ist es gelungen, darüber hinaus einen femininen Ansatz einzubringen, der die Serie prägt. Ich möchte damit nicht sagen, dass wir in Davids Schreiben eingegriffen haben. Aber ich glaube schon, dass sich der Fokus durch uns noch ein wenig verändert hat. Auch weil wir uns besser in ein Mädchen wie Hanna einfühlen können.

Können Sie das erklären?

Smith Eine Sache, die mir und Esmé besonders wichtig war, ist, dass Hanna keinerlei Scham kennt, was ihren Körper angeht. Sie schämt sich auch nicht für ihre Sexualität. Für sie ist Sex nur eine andere Form von Hunger. Das lieben wir an dieser Figur: Hanna ist nicht mit all den stereotypen Geschlechtervorgaben aufgewachsen, mit denen die meisten von uns aufwachsen. Als Frau ist man gewohnt, darauf zu achten, wie man nach außen wirkt, sich zu fragen, wie andere einen sehen. Männer müssen das nicht die ganze Zeit machen.

Creed-Miles Für Männer ist die Frage, was andere über sie denken, nicht so sehr Teil ihres psychologischen Grundgerüsts. Bei Frauen dagegen schon, ihnen wurde eingeimpft, auf die Außenwirkung zu achten.

Smith Hanna lebt dagegen ganz im Einklang mit ihrem Körper. Sie hat etwas Ursprüngliches, Animalisches. Es ist toll, so eine junge Frau zum Leben zu erwecken, die so gar nicht gesellschaftlich konditioniert wurde.

Ist „Hanna“ Thriller, Coming-of-Age-Drama oder feministisches Manifest?

Smith Uns ging es darum, einen emotional aufgeladenen Coming-of-Age-Agententhriller zu machen, der spannend, aber auch ein kleines bisschen subversiv ist. Falls wir es geschafft haben, in den Plot ein paar feministische Gedanken zu schmuggeln, wäre das klasse.

Creed-Miles Ich fände es zum Beispiel auch toll, wenn sich Mädchen „Hanna“ anschauen und hinterher sagen: Aha, ich darf auch furzen. Das ist ganz normal. Unsere Körper produzieren Gas . . .

Smith . . . und jeder bekommt Bauchschmerzen, wenn er versucht, das zu unterdrücken. Das klingt zwar vielleicht aus dem Zusammenhang gerissen etwas plump, aber tatsächlich geht es darum, dass wir als Frauen unserer Körper ernst nehmen. Für Jungs scheint das eine Selbstverständlichkeit zu sein. Aber auch Mädchen machen eklige Sachen.

Würden Sie sagen, das Erwachsenwerden ist für Mädchen schwerer als für Jungs?

Creed-Miles Bei mir ist der Prozess ja noch lange nicht abgeschlossen. Ich bin erst 19. Ich finde erst heraus, wie viele Geschlechterzuschreibungen mich verpfuscht haben. Und ich bin immer noch dabei, meine weibliche Identität zu finden, kämpfe gegen meine eigenen Unsicherheiten an. Und es wird nicht unbedingt leichter dadurch, dass ich in einer Industrie arbeite, die voller diskriminierender Tendenzen ist.

Smith Wir werden doch alle unser ganzes Leben lang erwachsen. Wir alle wissen nicht, wer wir wirklich sind, unser Konzept von Identität wird konstant getestet und verändert sich. Obwohl in „Hanna“ die Geschichte eines Teenagermädchens erzählt wird, ist die Serie auch für Erwachsene relevant. Weil sie uns lehrt, wie man unverkrampft, unvoreingenommen die Welt betrachtet.

Es gibt aber außerdem noch die Spionagegeschichte ...

Smith Das stimmt natürlich. Hanna muss erwachsen werden, während sie von Agenten gejagt wird. Sie ist nicht nur irgendein Teenager, der sich durch den Schulalltag quält, sondern sie ist auf der Flucht. Hinzu kommt die Auseinandersetzung mit ihrem Vater, der sie allein aufgezogen hat und der wie ein dunkler Schatten über ihr hängt. Er hat sie zwar als Baby aus einem Versuchslabor befreit, aber er hat sie in den Wäldern viele Jahre wie eine Gefangene behandelt und versteckt. Wir erzählen keine hübsche Vater-Tochter-Geschichte, zum Thriller gehört auch, dass sich Hanna von ihrem Vater befreien muss.

Creed-Miles Das gilt wahrscheinlich für viele Eltern-Kind-Beziehungen.

Smith Oft brauchen Eltern ihre Kinder mehr als die Kinder ihre Eltern. Das ist eine große Belastung und eine große Verantwortung für das Kind. Eltern müssen lernen loszulassen.

Gilt das übertragen auch für Sie als Regisseurin? Sie haben bei den ersten beiden Episoden von „Hanna“ Regie geführt und dann die Serie an andere weitergegeben. Fiel es Ihnen schwer, loszulassen?

Smith Einem kleinen Teil von mir fiel das schwer, aber ich habe – um in der Elternmetapher zu bleiben – mein Bestes gegeben, um das Baby auf die Welt zu bringen. Ich denke, dass ich mit Esmé und anderen Schauspielerinnen wie Mireille Enos und Rhianne Barreto eine gute Grundlage dafür geschaffen habe, wie sich die Serie anfühlen kann und was das für Charaktere sind. Ich bin mir sicher, dass die Serie in guten Händen ist.

Die acht Episoden der ersten „Hanna“-Staffel sind seit Freitag, 29. März, bei Amazon Prime Video in der englischen Originalversion und in der deutschen Synchronfassung verfügbar.