Nach dreißig Jahren der erste Mord? Die „Lindenstraße“ versucht den Anschluss ans moderne Fernsehen – und die Internet-Gemeinde ist schockiert.

München - Mein Gott, Erich! Da hast du es nun 19 Jahre lang ausgehalten an der Seite einer Frau, der man beizeiten ein Jodel-Diplom gewünscht hätte oder eine Amour fou mit dem Reiseleiter einer Rheumadecken-Kaffeefahrt. Irgendetwas, das Helga Beimer herausgerissen hätte aus ihrer kleinen Welt zwischen Kindern, Küche, Kreuzworträtsel. Und dann so etwas. Der WDR lässt dich in Folge 1559 der „Lindenstraße“ sterben. Man sieht, wie du auf dem Boden des Schlafzimmers liegst und Helga, die beste, aber auch nervigste Ehefrau von allen, auf die Knie sinkt und „Erich??!“ ruft, wie immer eine Spur zu ergriffen. Laut Drehbuch bist du da schon tot, aber dein Brustkorb hebt und senkt sich noch, man sieht es ganz genau. Diese Folge wurde live gesendet, zum ersten Mal in der Geschichte der „Lindenstraße“. Sich tot zu stellen, das ist auch eine Herausforderung, besonders bei dieser Frau.

 

Oder war es etwa deine Art, dagegen zu protestieren, dass dich die Autoren einfach rausgeschrieben haben ? Und das, obwohl du so gerne noch dabeigeblieben wärst, wie du in einem Interview versichert hast, als Jock Ewing der Lindenstraße? Solche Fragen beschäftigen auch am Tag eins nach dieser Folge zum dreißigsten Geburtstag der Lindenstraße die ganze Nation. Dabei fragt man sich schon, warum es ausgerechnet dich erwischt hat und nicht etwa Helga (Marie-Luise Marjan) oder den noch älteren, 82-jährigen Dr. Dressler (Ludwig Haas). Und ob es tatsächlich ein Herzinfarkt war, der dich dahingerafft haben soll. Oder ob du vielleicht sterben musstest, weil du der einzige Bewohner warst, der sich gegen die Pläne der Stieftochter von Dr. Dressler (Daniela Bette) gewehrt hat, das Haus in der Lindenstraße 3 zu verkaufen. Irgendetwas stimmte da nicht. Dafür gab es schon vorher Indizien. Erst der Stein, der kurz vor deinem Ableben das Schlafzimmerfenster zertrümmerte. Und dann diese Kratzspuren am Schloss der Tür.

Schon immer das „Dallas“ von München

War es vielleicht Mord? Die „Lindenstraße“ war ja schon immer das „Dallas“ von München. Gesellschaftskritik im Gewand einer Seifenoper; der Tod gehörte dazu. Seit die Vorabendserie 1985 zum ersten Mal über die Mattscheibe flimmerte, starben 47 Darsteller einen mehr oder weniger gewöhnlichen Serientod. Aids, Herzinfarkt, Altersschwäche, Tollwutinfektion, Verkehrsunfall. Die Todesursache hing auch davon ab, was dramaturgisch gerade am besten passte, zur politischen Großwetterlage oder zur Lage in der „Lindenstraße“. Das eine ließ sich nicht immer vom anderen trennen. Der Serienerfinder, Hans W. Geißendörfer, war ein Kind der 68er-Bewegung. Er wollte zeigen, dass das Private auch politisch ist.

Einen Mord an einem Hauptdarsteller aber hat es in dreißig Jahren „Lindenstraße“ noch nicht gegeben – dementsprechend überdurchschnittlich war auch die Einschaltquote: 3,08 Millionen Zuschauer verfolgten die Jubiläumsausgabe am späten Sonntagnachmittag. Nach WDR-Angaben schalten zur Zeit im Schnitt 2,5 Millionen TV-Zuschauer sonntags die Serie ein. Im Internet schießen die Spekulationen darüber ins Kraut, wer denn wohl den renitenten Beimer-Gatten ins Jenseits befördert haben könne. Mein Gott, Erich! Es gibt Zuschauer, die sind schockiert. Dabei ist man doch aus dem amerikanischen Fernsehen einiges gewohnt. Von dem Fantasy-Epos „Game of Thrones“ zum Beispiel, der Erfolgsserie des Bezahlsenders HBO. Deren Hauptdarsteller sterben schneller, als man sich ihre Namen merken kann. Das Rätselraten darüber, wer wohl als nächstes sein Leben aushaucht, ist schon fester Bestandteil der PR für diese mittelalterliche Version von „Dallas“.

Ist das der frische Wind, den Hana Geißendörfer ins gebührenfinanzierte Fernsehen bringen soll? Die dreißigjährige Tochter des „Lindenstraßen“-Erfinders ist neuerdings für das Drehbuch, die Regie und den Schnitt verantwortlich. Sie versucht den Spagat, diesen Ohrensessel des deutschen Serienfernsehens zu entstauben, ohne die alten Fans zu verschrecken. Mit dem Mord hat sie sich jetzt weit vorgewagt. Schon fragt sich der Mediendienst DWDL besorgt: „Wird das Fernsehen künftig noch dasselbe sein?“ Ein Blick in die Glaskugel dürfte die Fans beruhigen: Wo „Lindenstraße“ drauf steht, ist wohl auch künftig „Lindenstraße“ drin. Daran, lieber Erich, kann auch so ein magischer „Game-of-Thrones“-Moment nichts ändern. Das tut uns zwar leid für dich, aber du musst ja auch mal an die Quote denken. Die Luft aus deiner Ehe mit Frau Beimer war doch längst heraus. Vielleicht musstest du gehen, damit Helga mit 75 noch mal neu durchstarten kann. Es muss ja nicht gleich eine Amour fou mit einem Rheumadecken-Verkäufer sein.