Serien-Special bei den Filmfestspielen Die Berlinale macht Lust auf neue TV-Serien

Drogendealer in Neukölln, Terroristen in Kopenhagens U-Bahn und ein Undercover-Agent, der lieber Folksongs schreibt: Eindrücke vom Serien-Special bei den Filmfestspielen in Berlin, bei dem TV-Produktionen wie „4 Blocks“, „Gidseltagningen“ oder „Patriot“ Weltpremiere gefeiert haben.
Berlin - Tom Tavner macht sich Sorgen um seinen Sohn. Der grüblerische John ist nämlich nicht nur ein verdammt guter Agent, sondern auch ein hochbegabter Folksänger. „Seine Lieder werden immer besser und immer ehrlicher“, sagt Tom. Ehrlichkeit ist bei Folksongs zwar eine ziemlich tolle Sache, bei Agenten aber ein echtes Problem. Nachdem John beispielsweise gerade bei einer Geldübergabe in Luxemburg, die schiefgegangen ist, einen Unschuldigen töten musste, sitzt er später am Abend bei einer Open-Mic-Night mit seiner Gitarre auf einer Bühne und singt mit einem betörenden Bariton und verblüffender Intensität ein Lied darüber, wie er mal bei einer Geldübergabe in Luxemburg, die schiefgegangen ist, einen unschuldigen Menschen töten musste.
Undercover in einer Rohrverlegungsfirma
Die bitterböse US-Serie „Patriot“ ist die Entdeckung des Serien-Specials der Berlinale. Steve Conrad („Das erstaunliche Leben des Walter Mitty“) ist der Showrunner , der Macher der Serie, deren erste Staffel ab 24. Februar bei Amazon Prime verfügbar sein wird. Der Australier Michael Dorman („Wonderland“) spielt John Tavner, der als Undercoveragent in einer Rohrverlegungsfirma im mittleren Westen arbeiten muss, Terry O’Quinn („Lost“) seinen fürsorglichen Vater Tom. Was die zunächst als Zehnteiler angelegte Dramedy von den anderen vier TV-Produktionen, die auf der Berlinale vorgestellt wurden, unterscheidet, sind der einzigartige Ton, die originell-nüchterne Ästhetik, die Lust am Skurrilen, der Versuch, Neues zu schaffen und nicht die bereits etablierten Serienerfolgsstorys zu wiederholen.
Den anderen beim Festival gezeigten Serien merkte man stets an, welchen Vorbildern sie nacheifern. Da ist zum Beispiel der dänische Psychothriller „Gidseltagningen“, der von einer Geiselnahme in der U-Bahn, die zu einem Medienereignis wird, erzählt und dabei eifrig bei den Serien „Homeland“, „Borgen“ und „Hostages“ klaut. Allerdings werden die Versatzstücke so virtuos kombiniert, die Charaktere so präzise gezeichnet, dass das eigentlich nicht weiter stört: Scandinavian noir auf hohem Niveau.
Eine zur Serie angeschwollene Gangster-Rap-Fantasie
Die deutsche Gangsterserie „4 Blocks“ ist in ihrer Aneignung der Vorbilder dagegen dreister und dümmer. Sie vermanscht in ihrer Geschichte eines Drogendealer-Clans in Neukölln eine mit stereotypen Figuren vollgestopfte Dramaturgie, die man sich bei den Undercover-Cop-Storys des Hongkong-Kinos, bei „The Wire“ oder „Sons Of Anarchy“ abgeschaut hat, mit distanzlos inszeniertem Sexismus: eine zur Serie angeschwollene Gangster-Rap-Männerfantasie.
Der BBC-Krimi „SS-GB“ kommt einem wie eine Billigversion von „The Man In The High Castle“ vor. Auch hier haben die Nazis den Krieg gewonnen, England ist 1941 von den Deutschen besetzt, und ein Scotland-Yard-Inspektor (Sam Riley) muss mit einem Gestapo-Mann zusammenarbeiten. Weil dieser von Lars Eidinger gespielt wird, lohnt sich „SS-GB“ irgendwie doch. Die ZDF-Agentenserie „Der gleiche Himmel“, die von einem Ost-Agenten erzählt, der im Westberlin der siebziger Jahre den Verführer mimen soll, wirkt dagegen wie eine Variation von „Deutschland 83“ – allerdings großartig inszeniert mit Stars wie Tom Schilling oder Ben Becker.
Der Trend im Seriengeschäft geht zum Mehr, Mehr, Mehr
Krimis und der Schauplatz Berlin liegen derzeit also offenbar im Trend. Beides findet dann auch in der Serie „Berlin Station“ zusammen, in der es um eine geheime CIA-Zentrale inmitten der deutschen Hauptstadt geht. Die US-Serie, deren erste Staffel bereits in den USA ausgestrahlt wurde, gab es zwar auf der Berlinale nicht zu sehen, bei einer Podiumsdiskussion stellten die Produzenten aber ihre Arbeitsweise vor. Und auf die Frage, welchen Trend sie gerade im Seriengeschäft sehe, antwortete Jocelyn Diaz vom US-Sender Epix nur knapp: „Mehr! Mehr! Mehr!“
Ein Ende des Serienbooms scheint also nicht in Sicht. Obwohl Agnieszka Holland, die zuletzt vor allem als Serienregisseurin („House Of Cards“) agierte, auf der Berlinale mit dem Spielfilm „Pokot“ vertreten war, fiel doch auf, dass ihr Film von HBO Europe finanziert worden ist und letztlich heimlich einer Seriendramaturgie folgt.
Dass Qualitätsserien keinesfalls eine Erfindung von HBO und Netflix sind, machte die Berlinale wunderbar nebenbei dadurch deutlich, dass sie die restaurierte Fassung von Rainer Werner Fassbinders Miniserie „Acht Stunden sind kein Tag“ ins Programm nahm. Was sich auf den Plastikstühlen in der Berliner Volksbühne aber als Binge-Watching für Fortgeschrittene erwies. Aber wie sagt „Patriot“-Macher Steve Conrad: „Filme fühlen sich an wie Dating, Serien dagegen wie verheiratet sein.“
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